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Medizinethik vor neuer Bewährungsprobe: Coronakrise als Chance?

Ein Beitrag von Ute Altanis-Protzer

Dr. med. Ute Altanis-Protzer, M.A. studierte an fünf Universitäten fünf Fächer: Humanmedizin, Literaturwissenschaft, Philosophie, Politikwissenschaft und Medizinische Ethik.

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Veröffentlicht: 17.04.2020

Lesezeit: 7 Minuten

Letzte Änderung: 26.09.2023

Themen:

Schlagworte:

  • #corona
  • #expertennetzwerk
  • #health

„Jetzt, da immer klarer wird, dass eine einfache Rückkehr zu dem, was wir vor Corona als Normalität ansahen, nicht möglich ist: Wo wollen wir uns verorten? Wo befinden wir uns überhaupt als Menschen? Müssen wir in einer Zeit, in der wir immer mehr können, nicht lernen, unsere Grenzen neu zu sehen? Was ist für jeden Einzelnen Leben? Was Lebensqualität?“ – Eines unserer #expertstatements von Dr. med. Ute Altanis-Protzer.

Wussten Sie vor sechs Monaten, was Medizinethik ist? Ethik? Irgendetwas mit Moral, nicht wahr? Das ist nicht falsch, aber doch nicht zutreffend. Bei Ethik als Teilgebiet der wissenschaftlichen Philosophie geht es nicht darum, was wir als moralisch empfinden, das kann schon kulturell sehr verschieden sein, sondern um Begründung von Moral. Daraus können auch Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Ethik ist also Moralphilosophie.

Durch das Coronavirus Sars-Cov-2 und die Erkrankung Covid-19 ist mein Fach Medizinethik plötzlich im Alltag präsent. Es scheint, dass unzählige ethische Fragen jetzt auftauchen, sie sind aber nicht neu. Waren die Diskussionen nicht längst überfällig? Virologen, Epidemiologen, Infektiologen, Statistiker, Modellierer, alle Experten auf der naturwissenschaftlichen Seite sind jetzt gefragt, aber früh wurde klar, dass diese Expertise allein nicht ausreicht. Sammlung dringend notwendiger Daten und deren Interpretation und Einschätzung durch Experten allein sind nicht geeignet, Handlungsempfehlungen für gesellschaftliche Entscheidungen durch Politiker zu geben. Eine notwendige Teil-Entscheidung war der mehr oder weniger absolute Shutdown, über dessen Ergebnisse neue Daten benötigt werden; es scheint allerdings, dass das Etappenziel – eine Verlangsamung der Infektionen und damit keine Überlastung des Gesundheitssystems – erreicht wird.

Allerdings ist das Problem nicht gelöst: bei diesem Neuland ist keinesfalls klar, was passieren wird, wenn die Beschränkungen aufgehoben werden. Dass das irgendwann sein muss, ist offensichtlich, denn klarer zeigten sich in dieser Beobachtungszeit nicht nur die erwarteten wirtschaftlichen, sondern auch andere Problemfelder sozialer und psychologischer Art. Neue oder bisher einfach nicht aktuelle Ängste tauchten auf, nicht nur hervorgerufen durch verantwortungslose Fake News, sondern durch ernsthaft diskutierte Sichtweisen auf „Risikogruppen“ aufgrund von Alter und Vorerkrankungen. Dabei wurde im Zusammenhang mit (später nicht bestätigten) Nachrichten aus Frankreich, dass Selektion von Patienten, die überhaupt noch eine Therapie erhalten würden, aufgrund eines bestimmten Alter erfolge, besonders aber durch Bilder und Berichte verzweifelter ÄrztInnen aus den italienischen Krankenhäusern das Schreckenswort Triage ins Bewusstsein gerückt. Dabei ist „Triage“ keine Erfindung für Covid-19, sondern gehört seit langem zur Katastrophenmedizin, die sich mit Handlungsmöglichkeiten in all den Fällen beschäftigt, wo sehr viele Menschen gleichzeitig betroffen sind und versorgt werden sollen, ob Erdbeben, Tsunami, Krieg oder eben Pandemie.

All die neu aufscheinenden Diskussionen um Diskriminierung, ( das “chinesische“ Virus Trumps, die immer wieder überall auftauchende „eingeschleppte“ Gefahr durch, je nach Bedarf auch Flüchtlinge, jedenfalls „Andere“, wobei Grenzschließungen helfen würden, diese zu verhindern; Abschottungssehnsüchte, die ganze Neuauflage des Diskurses um „Wert“ von Leben. War es nicht längst überfällig, über all das nachzudenken? Können da die datenerzeugenden Wissenschaften weiterhelfen?

Die Stunde der Philosophie

Steven Hawking sagte einmal: „Philosophy is dead“, weil die heute anstehenden Fragen von Physikern beantwortet werden müssten. Wirklich? Eigentlich ist die Diskussion sehr alt. Im antiken Griechenland hielt Isokrates im Gegensatz zu Platon die Philosophie für ziemlich spekulativ und hätte sich heute wahrscheinlich für die MINT-Fächer im Bildungssystem ausgesprochen, praktische Kenntnisse, die direkt berufsvorbereitend sind. Demgegenüber lag das Schwergewicht Platons auf den Grundfragen wie „Was ist Gerechtigkeit“, während es von Aristoteles sogar schon damals eine fundierte Kritik dieser Sichtweise gab. Philosophie fördere durchaus praktische Entwicklungen, initiiere sie sogar. Wichtiger ist aber, dass schon er darauf hinweist, dass Philosophie da Richtlinien geben kann, wo Komplikationen auftreten. Ist nicht genau dieser Punkt jetzt spätestens erreicht? Schon seit Einstein wissen wir: Beschränkung auf reine Beobachtung kann uns in die Irre führen. Einige unserer grundlegenden Fragen heute: Ist die Welt determiniert oder nicht? Gibt es Realität außerhalb unserer Beobachtung? Diese Fragen dürften kaum nur durch immer feinere wissenschaftliche Methoden und deren Datenergebnisse zu beantworten sein.

Dass „medizinethische“, medizinische und ethische Fragen heute drängend sind, dass ihre Beantwortung wesentlich für unsere gesamte Zukunft sein kann, zeigt sich auch am Beispiel der Künstlichen Intelligenz. Diese wird seit Langem im Gesundheitswesen eingesetzt, in der Klinik, bei bildgebender Diagnostik, aber auch bei Assistenz in der Pflege. Der Deutsche Ethikrat hat sich in einer Stellungnahme dazu geäußert und durchaus mehr Daten angemahnt, (wir wissen einfach zu wenig!), aber betont, dass Ablehnung von vornherein jede Möglichkeit des Nachdenkens behindert. Ermöglicht nicht ein rechtzeitiger „Alarm“ sehr vielen Patienten, dass sie lange im häuslichen Umfeld bleiben können? Ist nicht Assistenz für Pflegepersonen bei schweren körperlichen Arbeiten wie häufigem Umlagern wirklich nötig? Brauchen wir da nicht einen ganz weiten öffentlichen Diskurs statt der bewusst irreführenden Konstruktion eines prinzipiellen Gegensatzes von “Menschlichkeit“ und „Technik“? Offenheit ist gefragt anstelle von diffusen Ängsten vor dem „Ersatz“ des Menschen, und dazu gehört eine Rückkehr zu den Grundfragen unserer Gesellschaft.

Welche Gesellschaft wollen wir sein?

Jetzt, da immer klarer wird, dass eine einfache Rückkehr zu dem, was wir vor Corona als Normalität ansahen, nicht möglich ist: Wo wollen wir uns verorten? Wo befinden wir uns überhaupt als Menschen? Müssen wir, in einer Zeit, in der wir immer mehr können, nicht lernen, unsere Grenzen neu zu sehen? Die faktischen Grenzen unseres So-Seins? Die Tatsache, dass wir alle sterben, zum Beispiel? Dass Unsicherheit zum Leben gehört? Uns die Frage stellen, ob wir alles dürfen, was wir können? Was sollen wir uns selbst versagen, wo neue Grenzen aufrichten? Und was wollen wir überhaupt? Was ist für jeden Einzelnen Leben? Was Lebensqualität? Gibt es sinnvolle Vorsorge und in welcher Form? Rechtzeitige Planungen? Praktisch: haben wir mit Vertrauenspersonen gesprochen? Eine Vorsorgevollmacht erstellt, für den Fall, das wir plötzlich aufgrund von Krankheit selbst nicht entscheiden könnten? Über die Möglichkeit einer Patientenverfügung nachgedacht und uns gut, (medizinethisch, nicht juristisch!) beraten lassen? Aber auch: was ist Gerechtigkeit, was Freiheit, was Solidarität und welchen Stellenwert schreiben wir diesen persönlich zu? Schließlich die älteste Frage der Ethik: was ist das Gute? Was somit ein gutes Leben und wie kommen wir persönlich dorthin?

Deshalb ist Philosophie auch in der jetzigen Expertendiskussion über Corona und die Folgen bitter nötig. Experten helfen, die Politik entscheidet. Auch das hat der Deutsche Ethikrat in einer Ad-hoc-Empfehlung für Corona ganz klar formuliert. Wir aber müssen alle Informationen (bei guten Quellen!) suchen, mit nachdenken, uns beraten lassen, wo es nötig ist, und zu Entscheidungen kommen.

„Ich habe einen Traum“…. einer offenen Gesellschaft mit freien Individuen, die Entscheidungen auf informierter Basis treffen. Bessere Vorbereitungen, bessere Information und Beratung, dann verantwortliches Handeln jedes Einzelnen. Sogar ohne verordneten Freiheitsentzug. Für unsere Zukunft. Innerhalb und außerhalb von Pandemien. DAS kann unsere neue Gesellschaft sein. Die Post – Corona – Gesellschaft. Das Ergebnis der Coronakrise. Unsere Chance.

Wir können daran arbeiten.

Ich würde gern mit Ihnen noch den Ausschnitt eines Textes von Olga Tokarcuk (Nobelpreis für Literatur 2019) teilen, denn so unnachahmlich können nur Dichter etwas ausdrücken:

„Jetzt kommen Neue Zeiten […]Dass nicht das Virus die Norm verletzt, sondern umgekehrt: dass jene hektische Welt vor dem Virus nicht normal war. Schließlich hat das Virus uns ins Gedächtnis gerufen, was wir so leidenschaftlich verdrängt hatten: dass wir fragile Wesen sind, gebaut aus der zartesten Materie[…] Dass wir von der Welt nicht durch unser „Menschentum“ und unsere Außergewöhnlichkeit geschieden sind, sondern dass die Welt eine Art großes Netz ist, in dem wir hängen, mit anderen Wesen durch unsichtbare Fäden von Abhängigkeit und Einfluss verknüpft. Dass wir voneinander abhängig sind und dass wir – ganz gleich, aus wie fernen Ländern wir stammen, welche Sprache wir sprechen und welches unsere Hautfarbe ist – genauso krank werden, genauso Angst haben und genauso sterben.“

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