Pandemie in Rumänien: Die Kluft zwischen Stadt und Land wächst
„Die Pandemie verschärft in Rumänien die bereits vorhandenen Disparitäten zwischen ländlichen und städtischen Räumen. Sie führt uns nochmals den maroden Zustand des Gesundheits- und Schulsystems in ganz besonderer Weise vor Augen. Fehlende Technologien, Ressourcen und fachliche Kompetenzen ziehen in der Corona-Krise vor allem sozial vulnerable Bevölkerungsschichten in ländlichen, peripheren Räumen in Mitleidenschaft.“ Ein Expert Statement von Dr. Karolina Purnhauser.
Bereits vor der COVID-19-Pandemie kämpfte der ländliche Raum mit erheblichen sozioökonomischen und strukturellen Problemen. Hohe Arbeitslosigkeit, geringes Einkommen (hauptsächlich aus der Landwirtschaft), erhöhte Armutsgefährdung, geringes Ausbildungsniveau, prekärer Gesundheitszustand und Überalterung, fehlende Infrastruktur und mangelnder Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen sind nur einige Merkmale, die die ländliche Landschaft bisher maßgeblich prägten. Angesichts der Tatsache, dass rund 46 Prozent der Einwohner*innen Rumäniens im ländlichen Raum leben, dürfte eine weitere Zuspitzung der Pandemie für breite Bevölkerungsschichten riskant werden.
Wenn wir uns über den Zugang zu Bildung Gedanken machen, dann müssen wir feststellen, dass Kinder in ländlichen Räumen offensichtlich besonders unter den Folgen der Pandemie leiden. Der Zugang zu Bildung ist vielerorts angesichts fehlender Ressourcen und Technologien (Internetzugang, Ausstattung mit Geräten wie PCs/Laptops oder Drucker, kompetente Fachkräfte) nahezu unmöglich. Laut offiziellen Angaben haben im vergangenen Jahr 40 Prozent der Kinder im ländlichen Raum nicht am Online-Unterricht teilgenommen. Im Schnitt haben hier drei von vier Schulen überhaupt keinen Internetzugang und neun von zehn Schulen keine PCs, Laptops oder Tablets für den digitalen Unterricht. Außerdem können 55 Prozent der Eltern nicht jedem Kind der Familie ein eigenes Gerät zur Verfügung stellen. Die schon lange vorhandenen desaströsen hygienischen Zustände in zahlreichen Schulen (fehlendes Trinkwasser und fehlende Toiletten im Schulgebäude, keine Seife oder Desinfektionsmittel) verdeutlichen den Ernst der Lage. Anfang des Schuljahres 2019 gab es in Rumänien laut offiziellen Daten mehr als 1.000 Schulen, die lediglich auf dem Schulhof über Toiletten verfügten. Die Pandemie legt nun die dramatische Dimension der jahrzehntelangen Unterfinanzierung des Schulwesens klar und deutlich offen. Ob die kurz vor Weihnachten gewählte rumänische Regierung darin einen Grund zum raschen Handeln erkennt, bleibt abzuwarten.
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Der Zugang zur medizinischen Versorgung im ländlichen Raum, die in Zeiten der Pandemie eine lebenswichtige Rolle spielt, kann größtenteils nicht gewährleistet werden. Die vorhandene sehr schwache und veraltete Ausstattung der medizinischen Einrichtungen und das fehlende Fachpersonal verschärfen die Situation zusätzlich. Obwohl fast die Hälfte der Bevölkerung im ländlichen Raum lebt, befanden sich hier im Jahr 2019 nur 19,04 Prozent aller medizinischer Einrichtungen (Krankenhäuser, Arztpraxen, Ärztehäuser oder Apotheken). Die Anzahl der Facharztpraxen war im ländlichen Raum 23-mal geringer (nur 494 Arztpraxen) als im städtischen Raum. Und obwohl sich die Arztdichte in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht hat, sind ländliche Räume mit einem Arzt bzw. einer Ärztin pro 1.576 Einwohnerinnen (im Jahr 2018) mehr als unterversorgt. Im Vergleich befinden sich städtische Räume mit einem Arzt bzw. einer Ärztin pro 191 Einwohnerinnen generell in einer besseren Versorgungssituation.
Zudem sorgen ein niedrigeres Ausbildungsniveau, ein generell geringeres Gesundheitsbewusstsein, verankert in der Mentalität der Einwohner*innen, und ein Defizit an Informationen dafür, dass sich Verschwörungstheorien im ländlichen Raum stärker verbreiten und Fuß fassen können. Die negativen Folgen zeigen sich vor allem in der Ignoranz staatlicher Schutzmaßnahmen.
Trotz jahrzehntelanger, laufender nationaler Bemühungen und europäischer Hilfsfonds, die auf die sozioökonomische Entwicklung des ländlichen Raumes abzielten, zeigt die Corona-Krise ein Bild der Hilfslosigkeit und Verzweiflung. Es wäre ein geeigneter Zeitpunkt die Effektivität und Effizienz dieser Entwicklungsprogramme im ländlichen Raum zu revidieren und kritisch zu hinterfragen. Inwieweit dies tatsächlich geschehen wird, bleibt offen.
Es gilt nun der immer größer werdenden Kluft zwischen ländlich und städtisch geprägten Räumen gegenzusteuern, diese dürfte aber noch lange bestehen bleiben und durch die aktuelle Pandemie erst richtig Fahrt aufnehmen.
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