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Kultur nach Corona: ist Augmented Theater die Lösung?

Ein Beitrag von Maja Franke

Maja Franke ist Expertin für Content und Corporate Publishing und war für 20blue auch als Art Directrice tätig.

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Veröffentlicht: 12.10.2021

Lesezeit: 9 Minuten

Letzte Änderung: 31.08.2023

Schlagworte:

  • #corona
  • #kultur
  • #tanz

Teil 2 des Interviews mit Sebastian Weber, weiter auf der Suche nach Content: Wie können die vergangenen anderthalb Jahre künstlerisch umgesetzt werden? Musikalisch, konzeptionell, tänzerisch? Dazu interviewe ich Sebastian Weber, denn dieser Mann hat einen Plan. Eigentlich mehrere!

Wie bist Du zum Stepptanz gekommen – Was ist die Geschichte dahinter?

Teil 1 des Interviews hier lesen.

Wie kam es zur Gründung der SWDC?

Ich hatte 2016 so eine Art kreative Krise – oder „neue Unzufriedenheit“. Also, das ist positiv gemeint! Bis dahin hatte ich schon zwanzig Jahre lang Stücke produziert und auch einen gewissen Ruf als jemand, der Stepptanz als zeitgenössische Bühnenform begreift. Aber mir wurde plötzlich bewusst, dass ich immer nur den Kontext verändert hatte: Ich hatte den Stepptanz mit zeitgenössischer Musik kombiniert oder mit Film, Lyrik, Schauspiel, und so weiter. Das Innovative lag immer in der Kombination. Den Tanz selbst hatte ich kaum verändert.

Und dann hatte ich plötzlich ganz klar das Gefühl: alles andere muss jetzt weg! Was du zu sagen hast, musst du ganz innerhalb des Tanzes behandeln können. Ohne den Schnickschnack drumrum.

„Was du zu sagen hast, musst du ganz innerhalb des Tanzes behandeln können.“

Sebastian Weber

Daraus sind viele Fragen entstanden. Ich brauchte einen elementar neuen Zugriff auf die visuelle Gestaltung, auf die Bewegungen. Das klingt vielleicht schräg, aber bisher war mein Tanz hauptsächlich auf den Klang ausgelegt. Für die Organisation der Bewegung hatten wir gar kein Vokabular. Es stellten sich auch dramaturgische Fragen: Wie kann ich aufrichtig ein Thema behandeln, wenn keine anderen Medien im Spiel sind, die eine Geschichte erzählen können? Und unser Tanz ist ja immer von Themen inspiriert, die uns wirklich nah gehen.

Ich habe mir dann lauter neue Methoden ausgedacht – oder eigentlich aus anderen kreativen Berufen zusammengeklaut – und eine kleine Truppe von Stepptänzer*innen gesucht, um sie auszuprobieren. Teilweise fühlte sich das völlig albern an, aber auch sehr verspielt und kreativ, nach einem neuen Aufbruch. Es hatte mit Stepptanz gar nicht so viel zu tun. Ich glaube, wir hatten sogar eine Woche lang keine Steppschuhe an. Am Ende wurde daraus unser erstes Stück CABOOM. Für unsere damaligen Verhältnisse war es ein großer Erfolg und das hat uns sehr motiviert. Diese schrägen Methoden hatten sich als gut erwiesen. Für mich war dann klar, dass das jetzt mein neuer Weg ist.

Jetzt reinhören: wie geht es mit der Kultur nach dem Lockdown weiter?

Deine Tänzer haben alle einen internationalen Background, wie hast Du sie gefunden?

Die Stepptanz-Welt ist klein. Man kennt sich gegenseitig. Einige der Kolleg*innen hatte ich schon auf dem Radar und habe sie direkt angesprochen. Andere habe ich auf Auditions kennengelernt. Barcelona ist ein Stepptanz-Hub in Europa, da haben wir Auditions gemacht. Am Anfang gab es nicht so viel Interesse, aber jetzt haben wir mehr Erfolg und erreichen deshalb auch weitere Kreise. Aktuell sind wir ein Team von 10 Tänzer*innen aus sieben verschiedenen Ländern. Der Orga-Aufwand ist immens, aber es geht nicht anders. Es gibt einfach nicht viele Tänzer*innen, die das können oder wollen, was wir machen. Und die, die es gibt, sind überall verstreut: London, Oslo, Barcelona, Leipzig

Ihr habt im letzten Jahr zahlreiche Preise gewonnen und Förderungen erhalten. Unter anderem die Konzeptionsförderung der Stadt Leipzig. Als erste und einzige Tanzcompany aus dem Osten. Was glaubst Du, wieso hat es so lange gedauert, bis eine Company von hier diese Art der Förderung bekam – und wie habt Ihr Euch das erarbeitet?

Beim Sächsischen Tanzpreis hatten wir vielleicht einfach Glück. Keine Ahnung. Ich war selbst völlig überrascht.

Was die Ost-Frage angeht, hat das mit gewachsenen Strukturen zu tun. In Nordrhein-Westfalen oder Hamburg oder Berlin gibt es seit Jahrzehnten eine freie Szene mit Exzellenzanspruch. So konnten sich Netzwerke von Veranstaltern, Förderern, Publikum, Medien bilden … Das verstärkt sich von selbst, zieht gute Leute an, die wieder gute Ideen entwickeln, die wieder mit Förderungen ausgezeichnet werden, und so weiter. Das gibt es in den „neuen“ Bundesländern nicht so.

Dadurch sind erhebliche Ungleichheiten entstanden. Ich glaube, auf der Deutschen Tanzplattform war in den letzten acht Jahren keine einzige Company aus den neuen Bundesländern dabei. Oder die Konzeptionsförderung des Bundes, die konnte noch nie von einer Truppe aus dem Osten akquiriert werden. Das ist schon krass.

„In vielen Kommunen im Osten wird momentan das Verständnis von Freier Szene neu definiert – dabei entstehen auch neue Qualitäten!“

Sebastian Weber

Man muss aber auch dazu sagen, dass in vielen Kommunen im Osten das Verständnis von Freier Szene neu definiert wird – und neue Qualitäten entstehen. Gerade Leipzig ist ein fantastisches Beispiel! Die Mittel für die Freie Szene wurden drastisch erhöht. Das war ein Knall, der bundesweit gehört wurde. Vor allem gibt es richtig engagierte Leute in der Kulturpolitik, im Kulturamt, in der Szene selbst, die immer wieder nach neuen Lösungen suchen. Ich glaube, das wird der Weg sein: Ein langer Atem und die Zusammenarbeit mit offenem Visier. Immer wieder dranzubleiben.

Für uns ist das überlebenswichtig: Ohne Anschluss an die Exzellenzförderung des Bundes ist eine Company unserer Größenordnung nicht haltbar. Das ist einfach so. Und ohne eine starke regionale Verankerung, ohne Fördermittel aus Stadt und Land, sind die Bundesmittel nicht zu kriegen. Es müssen alle Teile zusammenpassen. Das sind dicke Bretter. Wir können froh sein, dass Leipzig immer weiter nach Lösungen sucht. Aber es stimmt auch, dass die Zukunft noch völlig offen ist. Es kann auch nächstes Jahr schon wieder alles vorbei sein.

Zurück zum Tanz: Was unterscheidet Deiner Meinung nach Steptanz vom klassischen Ballett?

Ha! Alles! Step groovt, Ballett ist nicht zu hören. Stepptanz sucht nach der Erde, nach Schwerkraft, nach Wurzeln, Ballett geht in die Luft, will schweben. Stepp will Individuum, will Kante. Ballett will Synchronität. Es gibt keinen „Corps de Stepp“ – zumindest nicht in der Tradition des Jazz Tap, aus der wir kommen. Die Wurzeln des Balletts reichen an französische Königshöfe. Die Wurzeln des Stepp reichen in die schwarze Diaspora – und damit in das dunkle Kapitel der Sklaverei.

„Stepptanz sucht nach der Erde, nach Schwerkraft, nach Wurzeln, Ballett geht in die Luft, will schweben.“

Sebastian Weber

Mein Tanz ist aber inzwischen so anders, im Vergleich zum stark traditionellen Steptanz, dass wir schon überlegt haben, ihn anders zu nennen. Im Namen der Company kommt das Wort „Stepp“ oder „Tap“ bewusst nicht mehr vor.

Gibst Du Deinem Tanz einen neuen, eigenen Namen?

Nein, ich versuche, das komplett zu vermeiden. Es wimmelt nur so von Klischees: Die Leute denken an irischen Tanz oder an Fred Astaire. Damit haben wir ja so gut wie nichts zu tun. Die wirklichen Wurzeln des Stepp, die uns wichtig sind, kennt wiederum kaum jemand. Anfangs galt ich als zeitgenössisch, obwohl ich die traditionellste Sache überhaupt gemacht habe: den Stepptanz als getanzte Perkussion in eine Jazzband zu integrieren.

„Wir schaffen Bewegung, nicht Tanz.“

Sebastian Weber

In der Company vermischen wir alles, was wir kriegen können: vom archaischen Stampfen im Kreis bis zur pingeligen klassischen Komposition. Wir reden auch oft davon, „Bewegung“ zu schaffen und nicht „Tanz“. Was die Methoden und Konzepte angeht, sind wir sicher näher am zeitgenössischen Tanz als am Stepp.

Wenn es unbedingt sein muss, rede ich von „zeitgenössischem Stepptanz“, aber ansonsten überlasse ich das lieber den Journalisten.

Manche Menschen finden schwer einen Zugang zum zeitgenössischen Tanz – kennst Du die Gründe dafür? Was antwortest Du ihnen?

Klar! Viele Leute haben das Gefühl, zeitgenössischen Tanz nicht zu verstehen. Bei einem Theaterstück oder Kinofilm folgen sie einer klaren Story. Bei einem Konzert haben sie gar nicht den Anspruch, etwas verstehen zu müssen. Aber beim Tanz sieht es dann so aus, als stecke da viel Absicht dahinter. Vielleicht gibt es auch einen intellektuellen Text im Programmheft – und dann lässt sich das im Stück nicht entschlüsseln.

„Bei einem Theaterstück oder Kinofilm folgen die Zuschauer*innen einer klaren Story.“

Sebastian Weber

Das ist eine grundsätzliche Frage: Wie kommuniziert Tanz? Was wird da mitgeteilt und was soll man „verstehen“?

Meine Antwort ist: Unsere Stücke sind keine Bilderrätsel. Ihr seid eingeladen, einzutauchen und das auf euch wirken zu lassen, so ähnlich wie bei einem Konzert. Wenn ihr da bestimmte Bilder oder Emotionen oder Stories entdeckt, ist das gut. Das sind dann auch genau die richtigen Bilder. Es gibt kein Richtig und Falsch. Das Besondere am Tanz ist ja, dass wir Resonanzräume öffnen, die erst im Betrachter vollständig werden.

„Tanz öffnet Resonanzräume, die erst im Betrachter vollständig werden.“

Sebastian Weber

Das hat bei uns als Absender schon einen klaren thematischen Bezug und eine echte Motivation. Ist auch wochen- und monatelang entwickelt und erarbeitet. Wenn wir nicht hundertprozentig meinen, was wir tanzen, funktioniert es nicht. Aber wir liefern nichts als fertiges Produkt ab, sondern als etwas Offenes, das sich erst in der Begegnung mit dem Publikum vervollständigt. Und dann als etwas Lebendiges, Bewegliches, das sich auch später noch verändert. In Gesprächen oder auf dem Weg nach Hause.

„Für mich gehört Tanz zum Verstehen der Welt. Nein, zur Auseinandersetzung mit der Welt. Verstehen klingt zu selbstbewusst.“

Sebastian Weber

Es ist übrigens so, dass ich die wichtigen Erlebnisse, die wichtigen „Erkenntnisse“ aus unseren Stücken selbst nicht in Worten sagen kann. Ich kann auch nicht vorhersagen, wo sie entstehen. Deswegen ist der Tanz ja so kraftvoll! Es gibt darin ganz Wesentlichen zu entdecken, das man nicht findet, wenn man nur mit Worten sucht. Für mich gehört Tanz zum Verstehen der Welt. Oder vielleicht zur Auseinandersetzung mit der Welt. Verstehen klingt zu selbstbewusst.

Also mein Tipp: Einfach kommen, Handy aus, Kopf abstellen, alle Antennen öffnen … es wird schon was passieren.

Wo willst Du mit deiner SWDC hin? Lass uns mal theoretisch in das Jahr 2023 gucken. Wo seid ihr da?

2023 kommt schneller, als man denkt, wir haben sogar schon konkrete Pläne! Meine Hoffnung ist, dass wir uns bis dahin als große, freie Company in der Region und international gefestigt haben. Das heißt konkret, dass wir 30 bis 50 Aufführungen pro Jahr spielen. Mit den Community-Projekten und Workshops wollen wir auch ein breites Publikum außerhalb des Theaters erreichen. Dass wir einen richtig guten Mix finden aus Verwurzelung in der Region und internationalem Touring. Dass unsere eigene Probenbühne in Leipzig brummt und zu einem kraftvollen Hub für zeitgenössischen klingenden Tanz geworden ist. Das alles bedeutet auch, dass wir eine wirklich starke Administration brauchen und nachhaltige Finanzierung sichern müssen. Dazu brauchen wir Verbündete.

„Die Bühne ist unser Epizentrum! Aber als Company wollen wir uns zu etwas entwickeln, das mitten in der Gesellschaft steht.“

Sebastian Weber

Auf lange Sicht geht es mir darum, die Company als etwas zu entwickeln, das mitten in der Gesellschaft steht, nicht nur auf der Bühne. Natürlich ist die Bühne unser Epizentrum. Aber mit jeder Produktion gibt es auch Workshops, Gesprächsformate, Schulprojekte … Wir wollen unserem Publikum wirklich begegnen. Tanz kann das ermöglichen:

Begegnung, Auseinandersetzung, Inspiration. So stelle ich mir das vor: Eine Tanzcompany als Impulsgeber und positiver Ort für eine engagierte Gesellschaft. Gerne mit einer gesunden Portion Utopie.

Das waren mehr Themen, als ich erwartet hätte. Euch alles Gute! Und danke Dir herzlich für das Gespräch.

Das Interview führte Maja Franke von 20blue mit Sebastian Weber, Gründer und Künstlerischer Leiter der Sebastian Weber Dance Company.

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