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Die Diversität des Erlebens. Chronisch krank in Zeiten der Krise

Ein Beitrag von Ilka Baral

Ilka Baral ist studierte Betriebswirtin sowie examinierte Kinderkrankenschwester. Heute ist sie als freie Autorin, Journalistin und Lektorin tätig.

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Veröffentlicht: 27.05.2020

Lesezeit: 7 Minuten

Letzte Änderung: 08.09.2023

Themen:

Schlagworte:

  • #corona
  • #expertennetzwerk
  • #health

„In dieser Krise herrscht eine große Diversität des Erlebens: Die einen langweilen sich, die anderen kämpfen ums Überleben. Erstere möchten nicht selten glauben, gefeit zu sein, und fordern, Einschränkungen nur noch für Risikogruppen gelten zu lassen. Diskriminierung also. Ausgrenzung. Wollte Deutschland nicht ein Sozialstaat sein, um soziale Gerechtigkeit bemüht?“ – Eines unserer #expertstatements von Ilka Baral.

Ein paar hundert Meter vor der Praxis ziehe ich mir die Maske übers Gesicht. Die Leute auf der Straße gucken: Was ist denn mit der los? Als ich die Praxis betrete, gucke ich: Keiner der Angestellten, nicht einmal der Arzt, der gerade im Kittel an mir vorbeisegelt, trägt eine Maske. Ich bin froh, dass ich nur beschriebenes Papier benötige. Nichts wie raus hier.

Den Überweisungsschein in der Hand, vereinbare ich später am Telefon den Termine für die lang ersehnte Untersuchung. Ich frage vorsichtshalber nach: Ja, natürlich, alle Mitarbeiter würden Maske tragen, und man bittet mich inständig, das auch zu tun. Ich bin erleichtert.

Die ersten Covid’schen Autopsiebefunde werden veröffentlicht. Der Tübinger Oberbürgermeister äußert sich despektierlich: Man würde doch nur Menschen retten, die ohnehin bald sterben. Weit gefehlt ist seine persönliche Ad hoc-Interpretation sehr wohl, das belegen im Eilverfahren nachfolgende Expertenberechnungen. Ihm ist das egal. Seine Entschuldigung ist rhetorisch.

Die Zeitschrift MMV – Fortschritte der Medizin geht der Frage nach, wie viel Maske es denn sein sollte und spöttelt sogleich über „gesunde junge Leute mit FFP-Masken im Supermarkt“. Als wäre es albern, wenn junge Menschen hochwertige Masken tragen. Die Art Masken, die – im Gegensatz zu einfachen OP-Masken – nicht nur die Anderen, sondern auch den Träger selbst schützen.

Mich friert bei dieser Lektüre. Dieses Magazin rühmt sich, der Wissenschaft verpflichtet zu sein. Es will Ärzte informieren. Wie geht das, wenn da offenbar jemand nicht weiß, dass auch junge Menschen Vorerkrankungen haben und chronisch krank sein können – und man denen das nicht immer ansieht? Dass auch junge Menschen schwer an Covid-19 erkranken und sterben können?

In einem Ärzte-Forum fragte kürzlich eine Ärztin, wie es denn sein könne, dass ihre Praxis plötzlich so leer sei, ob denn die, die normalerweise ständig kämen, gar nicht krank seien? Ich frage: Hat sie denn nicht gelesen, was ihre Kollegen berichten? Von Menschen zum Beispiel, die vier Tage nicht zum Arzt gehen, obwohl sie einen Herzinfarkt hatten – aus Angst vor dem Virus?

Viele Menschen verstehen diese Krankheit nicht. Einige verstehen nicht die Mathematik, die hinter der Verbreitung dieses Virus steckt. Andere verstehen nicht die Angst und die Verdrängungs­mechanismen, die eine solche, unsichtbare Gefahr auslösen kann. Ich würde gerne wahrhaben wollen, dass nur medizinische Laien mit der aktuellen Situation überfordert sind.

Ich bin es ja auch. Allerdings aus anderen Gründen: Ich gehöre zur Hochrisikogruppe. Mit dem aktuellen Ausnahmezustand halbwegs umgehen kann ich wohl nur, weil ich vor langer Zeit ein Examen als Krankenschwester abgelegt habe. Das bringt gerade absurde Vorteile, denn mir braucht keiner etwas über Masken, Desinfektion, Abstand oder Händehygiene erzählen.

Erzählen würde ich anderen aber gerne etwas über das Chronisch-krank-sein in dieser absonderlichen Zeit. Es scheint wie ein platter Witz, dass ich gerade jetzt an einem Buch arbeite, welches für mehr Kenntnis über das Leben mit chronischer Krankheit sorgen will. Auch in Fachkreisen. Vielleicht ist es gut, dass ich noch nicht fertig bin. Corona will da was ergänzen.

Durch die Arbeit am Buch habe ich intensiven Kontakt mit Betroffenen aller möglichen Erkrankungen, die nicht mehr weggehen wollen. Um es kurz zu machen: Chronisch krank zu sein, das war schon vor Sars-CoV-2 kein Spaß. Jetzt ist es das erst recht nicht mehr.

Einige verstecken sich zu Hause, überlassen Familienangehörigen den Einkauf. Das ist keine Paranoia, das ist effizienter Selbstschutz. Andere müssen raus, zur Arbeit vielleicht. Die stehen unter Dauerstrom, ständig voll mit Adrenalin. Vielleicht beten sie jeden Morgen: Bitte, lass den Virus heute an mir vorübergehen, damit ich meine Kinder auch morgen noch versorgen kann.

Ja, es gibt chronisch Kranke unter den Systemrelevanten, die da an den Supermarktkassen sitzen und sich anhusten lassen mussten, bevor die ersten Plexiglasscheiben Einzug hielten. Nur wenige haben das Glück, im Job auf Home-Office und Videokonferenzen umsteigen zu können.

Einige kriegen Panikattacken, mehr als sonst. Vielleicht wegen der Maske im Gesicht, die das Atmen blockiert, und so grauenhaft an den einen Moment erinnert, damals, als die Posttraumatische Belastungsstörung ihre Wurzeln in das eigene Leben geschlagen hat.

Andere von uns verzweifeln beim Einkauf, weil die wenigen Lebensmittel, die sie zu sich nehmen können, gerade nicht erhältlich sind. Einige brauchen wegen entzündlicher Darmerkrankungen einfach mehr als eine rationierte Packung Klopapier, weil sie 20 mal am Tag Stuhlgang haben.

Wiederum andere sind fast ein bisschen dankbar, weil die Gesunden jetzt endlich mal mitkriegen, wie belastend soziale Isolation und finanzielle Knappheit sein können. Für diese Betroffenen sind Abgeschnittensein und Armut durch Krankheit normal. Routine. Alltag. Ein seltsamer Profi-Status.

Einige warten seit Wochen auf Operationen oder wichtige Untersuchungen. So etwas findet gerade nicht statt, oder wenn, dann mit enormer Verspätung. Weil die Klinikkapazitäten frei gehalten werden sollen, für eventuelle Covid-19-Fälle. Alles gut, völlig in Ordnung. Aber was ist, wenn die andauernde Unsicherheit, die Schmerzen, die vielen Tabletten, der ausgehende Atem den Lebenswillen raubt? Wie soll man da weitermachen? Es kostet Kraft. Sehr viel Kraft.

Wieder andere unter uns sind auf Medikamente angewiesen, die entweder derzeit nicht mehr erhältlich sind oder unter Corona-Bedingungen einen hohen Risikofaktor darstellen. Was also tun? Symptome aushalten? Die Ärzte haben da auch keinen Rat. Was bleibt, ist die Unsicherheit, in hohem Maße. So etwas raubt den Mut, den man braucht, um mit der Krankheit zu leben.

Kürzlich erzählte mir ein 50-jähriger Betroffener, der alleine lebt, nicht mehr arbeitsfähig ist und täglich auf Helfer angewiesen, wie dankbar er ist, dass alle zu seinem Schutz Maske tragen. Aber er sagte auch: „Andererseits fühle ich mich jetzt nicht mehr nur unberührt, sondern auch unberührbar. Ein scheußliches Gefühl“. Solche Äußerungen zeugen von der Einsamkeit, die schon vor Corona kaum zu ertragen war, und die jetzt erdrückend wirkt.

Und manchmal wird klar, wie stark chronisch Kranke oft sind, weil sie es schon vor Corona sein mussten. Eine Betroffene, die unter den Folgen ihrer Kindheit noch heute seelisch und körperlich leiden muss, erklärte mir: „Es gab Schlimmeres, das ich erlebt und überlebt habe, als eine Corona-Krise. Giftiger als Corona ist meine Familie“. Und das hat nichts mit der Gleichgültigkeit zu tun, die manch einer heutzutage mit sich herumträgt, während er sagt: „Ach was, ist doch nur ein Virus“.

Wer als chronisch Kranker schon vor Corona nicht mehr arbeiten konnte, also in vielleicht jungen Jahren bereits berentet wurde, oder sich bewusst für einen superlangweiligen, aber dafür supersicheren Job entschieden hat, der verfügt damit gerade über einen paradoxen Luxus: Das Bangen darf sich „nur“ auf die Gesundheit beschränken, die Finanzen sind gesichert.

Dass das mitnichten selbstverständlich ist, wird klar, wenn man erkennt, wie viele chronisch Kranke teilzeitbeschäftigt oder selbständig sind, eben weil sie einen Job, in dem sie rastlos funktio­nieren müssen, nicht leisten können. Die haben gerade die Arschkarte gezogen: Der Kampf um die Existenz toppt die größte Angst vor einer Corona-Infektion. Man kann das vorteilhaft nennen.

Die Infektionsraten sinken, die Menschen rufen nach Freiheit, wollen raus, wollen leben, wollen ignorieren. Ich bin eine von denen, die, wenn der Virus so richtig zuschlägt, vielleicht auf Intensiv landet. Damit bin ich nicht die einzige. Dieser Art gibt es viele unter uns chronisch Kranken. Sind wir dann die, um die es die Mühe nicht lohnt, weil wir eh bald ins Gras gebissen hätten?

In dieser Krise herrscht eine große Diversität des Erlebens: Die einen langweilen sich, die anderen kämpfen ums Überleben. Erstere möchten nicht selten glauben, gefeit zu sein, und fordern, Einschränkungen nur noch für Risikogruppen gelten zu lassen. Diskriminierung also. Ausgrenzung. Wollte Deutschland nicht ein Sozialstaat sein, um soziale Gerechtigkeit bemüht?

Gesundheit an Leib und Seele ist ein hohes Gut. Wer über dieses Gut verfügt, ist privilegiert. Das war schon vor Corona so. „Es gibt zurzeit einige, die sich zu Recht über die Situation beschweren können, ihren Job verloren haben, Angehörige verloren haben. Aber es gibt auch genug Leute, die mal ihre Privilegien checken sollten“, schreibt der Volksverpetzer. Ich schließe mich an.

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