Französischer Sonderweg? Offene Schulen während der Pandemie
“Macrons Satz “Pas facile d’avoir 20 ans en 2020” (zu Deutsch: “Nicht einfach, im Jahr 2020 zwanzig Jahre alt zu sein”) wurde zum Flügelwort für den sogenannten dritten Weg: Corona-Maßnahmen sollen verstärkt Rücksicht auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nehmen. Die Idee, Schulen lange aufzuhalten, wurde von vielen Bildungsexpert*innen begrüßt und sorgte für eine Verbesserung des gesellschaftlichen Klimas – wie zerbrechlich der Erfolg des dritten Weges ist, zeigt sich jedoch immer, wenn sich die Lage zuspitzt, wie zuletzt im Januar und Februar.“ Offene Schulen in der Corona-Pandemie: Julia Burmeister beschreibt im Expert Statement den französischen Sonderweg.
Die Rolle der Schule in der französischen Gesellschaft
Die école répoublicaine ist ein Herzstück der Dritten Republik. Jules Ferry begründete in seinen Schulgesetzen von 1881 bis 1882 die wichtigsten Prinzipien: Die Schule soll für alle obligatorisch, kostenlos und laizistisch sein. Bis heute muss eine französische Lehrkraft unter Beweis stellen, dass sie die republikanischen Werte verinnerlicht hat und eigene politische Überzeugungen zurückstellen kann. In der Grundschule und im collège unique (eine Art Mittel- oder Gesamtschule) lernen junge Franzosen und Französinnen gemeinsam: Erst mit fünfzehn Jahren werden sie nach Neigungen und Begabungen getrennt. Das französische Abitur wird zentral organisiert, leichte Abweichungen gibt es nur aufgrund von Zeitverschiebung in einigen Übersee-Départements: Von Lille bis Toulouse schreiben alle angehenden Abiturient*innen die gleichen Prüfungen in Geschichte, Englisch oder Mathematik. Die traditionell sehr offenen Fragen im Fach Philosophie, in dem die Argumentationsfähigkeit überprüft wird, werden jedes Jahr im Radio und Fernsehen diskutiert. Auch wer keine Kinder im schulpflichtigen Alter hat, kann sich dem baccalauréat kaum entziehen. Die aktuellen Reformen des Abiturs in Frankreich orientieren sich übrigens stark am deutschen Modell: Leistungskurse werden gewählt und die contrôle continu (Benotung durch die Lehrkräfte während der letzten beiden Schuljahre) rückt in den Vordergrund. Diese weitgehenden Reformen führten zu Streiks und Demonstrationen und werden in Printmedien und Talkshows noch immer heftig debattiert. Kurz gesagt: Bildung spielt eine Schlüsselrolle in Frankreich.
Schulschließungen am Anfang der Corona-Pandemie
In diesem Kontext mag es also nur wenig überraschen, dass die Schulschließungen im März 2020 ein großes mediales Echo hervorriefen. Die Ganztagsschule soll Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürger*innen formen – und sie gleichzeitig mit einer warmen Mahlzeit versorgen. Ähnlich wie in Deutschland ist die Digitalisierung noch nicht sehr weit vorangeschritten. Private Anbieter wie Zoom wurden vom Bildungsministerium für den Online-Unterricht abgelehnt, Server der öffentlichen Bildungsdienste waren meistens überlastet. Wegen der unsicheren Pandemie-Lage durften Eltern Mitte Mai selbst entscheiden, ob sie ihre Kinder wieder am Präsenzunterricht teilnehmen lassen möchten – eigentlich ein krasser Widerspruch zum Egalitätsprinzip des französischen Bildungssystems.
Unterschiede zwischen leistungsstarken und schwachen Schüler*innen, Gewalt in den Familien und psychische Probleme haben sich während des ersten frankreichweiten Lockdowns und der flächendeckenden Schulschließungen verschärft. All dies führte dazu, dass sich die französische Regierung auch während des zweiten nationalen Lockdowns zwischen Ende Oktober und Mitte Dezember und trotz anderer erheblicher Restriktionen, wie abendlicher und nächtlicher Ausgangssperren, zum Ziel setzte, die Bildungseinrichtungen so lange wie möglich offen zu halten.
Pandemiebekämpfung mit offenen Schulen
Nach einem relativ entspannten Sommer erwarteten viele Eltern und Lehrer*innen mit einer Mischung aus Vorfreude und Skepsis den Schulbeginn im Herbst 2020. Zur Erinnerung: Nach monatelangen Schulschließungen verlebten viele Familien in Frankreich einen fast gewöhnlichen Sommer mit geöffneten Campingplätzen und Ferienkolonien für die Jüngsten. Im September geht in Frankreich das Leben wieder los, die rentrée, wie die Rückkehr nach der fast zweimonatigen Sommerpause auch genannt wird, kann man mit einem zweiten Jahresbeginn vergleichen. In diesem Jahr rechneten jedoch nicht wenige mit einer erneuten Blaupause in Form von Lockdowns und Schulschließungen, die zunächst ausblieben.
Der französische Präsident Emmanuel Macron richtete seine Rede Mitte Oktober 2020 direkt an die französische Jugend. Sein Satz “Pas facile d’avoir 20 ans en 2020” (zu Deutsch: „Nicht einfach, im Jahr 2020 zwanzig Jahre alt zu sein”) wurde zum Flügelwort für den sogenannten dritten Weg: Corona-Maßnahmen sollen verstärkt Rücksicht auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen nehmen. Offene Schulen sorgen dafür, dass Kinder und Jugendliche regelmäßigen Kontakt zu Gleichaltrigen halten und sich die Leistungsabstände nicht weiter vergrößern. Der Zugang zu einer stabilen Internetverbindung oder einem funktionierenden Laptop determinieren nicht weiter den Lernerfolg. In der breiten Bevölkerung wurde dieser Schritt begrüßt. Es kehrte trotz Maskenpflicht und Desinfektionsgel-Spendern wieder eine Art von Normalität ein. An dieser Stelle muss jedoch differenziert werden: Seit Anfang November befanden sich die lycées (zehnte bis zwölfte Klasse) im Hybrid-Modus. Auch die coronabedingten Fehlzeiten seitens der Schüler*innen (positiv-getestet, Kontaktperson, mit Symptomen) häuften sich in einigen Regionen.
Die meisten Hochschulen waren hingegen im Herbst und Winter noch geschlossen und insbesondere vielen Erstsemestern fiel es schwer, sich allein durch den Stoff zu quälen. Beengte Wohnverhältnisse schlugen zusätzlich auf die Stimmung. In französischen Wohnheimen stehen pro Person meistens nur neun Quadratmeter zur Verfügung: Neun Quadratmeter, in denen gelernt, geschlafen und gegessen wurde. Ein Video des französischen Youtubers Gaspard G über den Studienalltag in Coronazeiten wurde von Millionen junger Menschen gefeiert. Es geht in diesem Video um den psychischen Leidensdruck vieler, durch soziale Isolation und hohen Leistungsdruck. Kurz darauf wurde in Frankreich beschlossen, dass alle Studierenden das Recht auf mindestens einen Tag Präsenzunterricht pro Woche haben.
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Ist der dritte Weg gescheitert?
Vor allem der Pariser Großraum, die nordfranzösischen Regionen und die Côte d’Azur sind aktuell besonders von COVID-19 betroffen, einzelne Krankenhäuser geraten an ihre Belastungsgrenzen. Die nordostfranzösische Region Moselle wird außerdem als Virusvariantengebiet qualifiziert. Intensivmedizinerinnen und Virologen warnten seit Anfang des Jahres vor einer dritten Welle und forderten eine Verschärfung der Corona-Maßnahmen in Form eines Lockdowns –Schulschließungen waren schon lange kein Tabu mehr, auch wenn sich der französische Präsident lange mit der Entscheidung schwertat.
Am 31. März 2021, also etwas über ein Jahr nach den ersten frankreichweiten Schulschließungen, verkündete Emmanuel Macron schließlich, dass ab Anfang April alle Vor- und Grundschulen für drei Wochen und alle weiterführenden Schulen für vier Wochen geschlossen werden; in diese Phase fallen allerdings die Osterferien, es handelte sich also nur um eine bzw. zwei Wochen Online-Unterricht.
Im internationalen Vergleich galt Frankreich bis Ende März dieses Jahres als eine Ausnahmeerscheinung: Im Durchschnitt waren die Schulen pandemiebedingt nur zehn Wochen geschlossen.Das Hygiene-Protokoll an französischen Schulen konnte Cluster aber nicht ausreichend verhindern. Bei einer Stichprobe an einer Schule in Elbeufin der Normandie mussten gleich dreizehn von einunddreißig Klassen schließen. Im am schlimmsten getroffenen département Seine-Saint Denis im Pariser Umland haben an einem Gymnasium gleich zwanzig Schüler*innen ein Elternteil durch COVID-19 verloren. Der Druck stieg immer mehr: Plötzlich wirkte auf viele der vormals gelobte Sonderweg als gefährliches Experiment. Gesundheitsexpert*innen sprechen von einer verlorenen Wette. Hat sich die französische Regierung in der Pandemiebekämpfung verspekuliert?
Die aktuelle Lage ist sehr ernst, aber nicht dramatischer als in vielen Nachbarländern. Denn in kaum einem anderen Land wird so viel getestet wie in Frankreich. Selbst in der tiefsten Provinz finden Privatpersonen ein Labor, in dem sie sich gratis einem PCR-Test unterziehen können, auch wenn sie keine Symptome haben – das Ergebnis lässt im Regelfall nur wenige Stunden auf sich warten. Wer es eiliger hat, kann in einer Apotheke nach einem Selbsttest fragen. Die hohe Anzahl an Coronatests hat zur Folge, dass die Sieben-Tage-Inzidenzen so hoch sind, dass das Robert Koch Institut ganz Frankreich wieder als Hochrisikogebiet eingestuft hat. Vergleiche mit Deutschland sind nicht unkompliziert, denn wo mehr getestet wird, steigen natürlich die Infektionszahlen.
Ohne das Auftreten weitaus ansteckender Varianten wäre die Strategie unter Umständen erfolgreich gewesen, denn aufgrund höherer Temperaturen war von einem Infektionsrückgang im Frühling auszugehen. Die Idee, Schulen lange aufzuhalten, wurde von vielen Bildungsexpert*innen begrüßt und sorgte für eine Verbesserung des gesellschaftlichen Klimas – Kritiker*innen werfen der Regierung aber vor, nicht schnell genug reagiert zu haben, als sich die Lage im Januar und Februar zuspitzte.
Wie geht es weiter?
Unabhängig von Inzidenzzahlen sollen die Schulen auf jeden Fall Ende April bzw. Anfang Mai wieder geöffnet werden. Die Einführung von Selbsttests – ähnlich wie in Deutschland – wird geplant, auch wenn es noch keine genauen Pläne zur Durchführung gibt. Zur Erinnerung: Seit Herbst 2020 sollen regelmäßige Schnelltests an französischen Schulen organisiert werden; lediglich in Folge von Clustern kam es zu einzelnen Test-Sessions, oft organisiert vom französischen Roten Kreuz. Es bleibt also abzuwarten, ob diese Strategie auch zeitnah umgesetzt wird. Bisher ist Testen noch Privatsache.
In den Medien ist oftmals die Rede von einem “strikten Hygiene-Protokoll“ in Bildungseinrichten. Wer den Alltag an französischen Schulen kennt, weiß aber, dass es keinerlei Abstandsregeln gibt, jede:r Schüler:in sich selbst mit Masken versorgen muss und die Fenster auch heute noch meistens nur gekippt werden können. In Zeiten, in denen versucht wird, das Gesundheitsrisiko auf ein Minimum herunterzufahren, wirken Schulen oft wie Inseln, in denen sich Jugendliche weiter umarmen und mit Wangenküssen begrüßen, Pädagog*innen sich im Lehrerzimmer zum Kaffee oder in der Kantine zum Mittagessen versammeln. Kann eine Bildungseinrichtung überhaupt ein keimfreier, sicherer Ort in Corona-Zeiten sein?
Anders als in vielen anderen Ländern werden Lehrerinnen und Lehrer in Frankreich nicht bevorzugt geimpft: Nach einigem Hin und Her wurde kürzlich beschlossen, dass nur Pädagog*innen, die in direktem Kontakt mit behinderten Kindern arbeiten, in der Prioritätenliste einige Plätze hochrutschen. Alle anderen müssen sich weiter gedulden. Gewerkschaften und Interessensverbände sehen diese Entscheidung kritisch. Wie kann so gewährleistet werden, dass es nicht zu erneuten Infektionsherden in den Schulen kommt? Wie kann das Personal geschützt werden? Deutschland und Frankreich kämpfen bei der Impfstoffbeschaffung und Verteilung von Impfdosen mit den gleichen Problemen: Noch immer steht nicht genug zur Verfügung, um die Risikogruppen zu schützen. Politische Entscheidungsträger*innen stehen also vor komplexen ethischen Fragen. Sollten zunächst Senior*innen mit Vorerkrankungen oder gesunde, junge Pädagog*innen mit zahlreichen Kontakten geimpft werden?
Vorbereitung auf den nächsten Lockdown?
Ohne besonders pessimistisch zu sein, kann ein erneuter Lockdown mit Schulschließungen nicht mehr ausgeschlossen werden – auch wenn dieser nicht mehr vor dem Sommer erfolgen soll. Eine effiziente Strategie sollte einerseits die Schulen sicherer machen vor COVID-Ausbrüchen, aber gleichzeitig auch bereit sein, einen erneuten Lockdown aufzufangen, indem die Bildungseinrichtungen besser vorbereitet sind. Zeitlich begrenzter Online-Unterricht muss nicht an sich schlecht sein, aber es ist notwendig, Schüler*innen ausreichend auszustatten und Lehrer*innen im Umgang mit digitalen Bildungsangeboten und Lernplattformen fortzubilden. Trotz unterschiedlicher Strategien in Deutschland und Frankreich, was Schulschließungen betrifft, ähneln sich Probleme und Lösungsansätze in beiden Ländern. Zu diesem Zeitpunkt ist es noch verfrüht, von einem gescheiterten Sonderweg Frankreichs zu sprechen, da die Öffnung von Bildungseinrichtungen über Monate viele positive Effekte zur Folge hatte. Wenn bestimmte Maßnahmen greifen, kann das aktuelle Schuljahr fast normal beendet werden – ein Ziel, das noch erreicht werden kann.
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