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Expert*innenwissen in der Kommunikation – Aufwind nach Coronakrise?

Ein Beitrag von Anja Mutschler

Die agile Denkmanufaktur ist in steter Bewegung – so wie Anja, die seit 13 Jahren das Research Institut mit der journalistischen Neugier, Kreativität und Gründlichkeit führt.

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Veröffentlicht: 15.04.2020

Lesezeit: 5 Minuten

Letzte Änderung: 11.09.2023

Themen:

Schlagworte:

  • #corona
  • #kommunikation
  • #sprache

„Die Wissenschaft hat in der Coronakrise getan, was sie am besten kann: auf Grundlage akademischer Erkenntnisse erörtern, wie die Lage zu bewerten ist und welche Handlungsempfehlungen getroffen werden können. Aus Sicht der Wissenschaft. Nicht: aus Sicht der Bevölkerung. Oder der Politik. Oder der Wirtschaft.“ – Eines unserer #expertstatements von Anja Mutschler.

Wissenschaft und Öffentlichkeit lernen in der Coronakrise viel voneinander: Wie handlungspraktisch kann – und darf – Wissenschaft in ihren Aussagen werden? Was wiederum kann – und muss – Wissenschaft an Handlungseinsicht mit bedenken, bevor sie sich äußert? Kurzum: Was ist wissenschaftlicher Rat „am Ende“ wert?

Eine Frage mit Sprengkraft. Sie wird nicht 2020 zum ersten Mal gestellt, der „Impact“ von Wissenschaft ist seit Jahren Gegenstand leidiger Förderdebatten. Aber, vielleicht zum ersten Mal wird sie von so vielen gestellt. Denn der Coronavirus Sars-CoV-2 ist ein Alle-Virus – Jede und jeder ist davon betroffen, gesundheitlich, ökonomisch, emotional. Und was die allermeisten von „allen“ suchen, ist: Gewissheit.

Gewissheit wiederum ist keine wissenschaftliche Kategorie. Auszuhalten, dass wir nicht alles wissen, oft nur “wissen, was wir nicht wissen”, ist eine Grundvoraussetzung, um wissenschaftlich tätig zu sein. Wissenschaftliche Neugier ist ein hohes Gut. Sie ist der Motor großartiger Entdeckungen. Und wirklich jede Wissenschaftlerin und jeder Wissenschaftler, der am Coronavirus derzeit forscht, zeigt uns allen, wozu diese akademische Neugier nützlich ist.

Eine zweite Grundvoraussetzung in der Wissenschaft ist das Wissen um die Beschränktheit seines Wissens – in der Regel kennen Forscher*innen sich in wirklich nur sehr kleinen Bereichen „richtig” gut aus. Christian Drosten hat das in einem seiner Podcast-Rants – verschiedentlich hatte er dort vor einer Überschätzung seiner Rolle gewarnt – darauf hingewiesen, dass er nur deshalb diesen Podcast mit einem guten Gefühl mache, weil er genau zu dieser Art Coronavirus wirklich viel wisse.

Ich kann seit der Schule kein Mikroskop mehr bedienen wie die meisten der Millionen Deutschen nicht, und mein Crashkurs in Statistik in den letzten Wochen offenbarte peinliche Lücken. Ich habe keinen Überblick über den neuesten Stand der pädagogischen, soziologischen oder psychologischen Forschung, und den Analysen der Ökonomen kann ich lediglich gediegenes Zeitungswissen entgegensetzen. Ich bin schon froh dieser Tage, dass politische Ideengeschichte eine meiner Lieblingsvorlesungen war und die politischen Implikationen des Ausnahmezustandes einigermaßen sicher einordnen kann. Ansonsten bin ich das, was ich seit 15 Jahren bin: eine Kommunikationsfachfrau mit einer Art eigenem Wikipedia: der Expertcommunity von Nimirum, in der hunderte von Fachleuten in ebenso vielen Gebieten sachlich besser Bescheid wissen als ich.

Vor diesem Kontext finde ich die akademischen Scharmützel zwischen Virologen vollkommen nachvollziehbar, distanziere mich aber gleichzeitig – wie die meisten Kolleg*innen aus der Kommunikation – von den Machern des „Heinsberg-Protokolls”, das es mit Sicherheit in ein PR-Handbuch schaffen wird als schlechtes Beispiel von Propaganda-PR. Für mich sind die akademische Debatte zwischen z.B. Drosten und Streeck und die Frage der Rechtmäßigkeit von Storymachine’s PR zwei getrennte Debatten: Die Virologen streiten sich um wissenschaftliche Methodik, die PR-Branche um die Legitimität und Grenzen ihrer Zunft. Zwei Expertenkreise treffen aufeinander: ein wissenschaftlicher und ein praktischer, ein akademischee und ein branchenspezifischer. Insbesondere auf Twitter (weniger in etablierten Medien) werden diese beiden Diskussionen miteinander vermengt, so dass, wenn wir nicht aufpassen, das Ergebnis der Gangelt-Studie am Ende heißen wird: „Allein, dass Storymachine die Heinsberg-Studie begleitet hat, zeigt, dass sie akademisch fragwürdig ist.” Es wäre nicht das erste Mal, dass im Rahmen einer Debatte um die Gültigkeit von wissenschaftlichen Aussagen sachliche und praktische Ebenen vermengt werden – was, Entschuldigung, Unfug ist.

Ähnlich geht es mir mit der hitzigen Debatte um Sinn und Unsinn der aktuellen Adhoc-Stellungnahme zur Pandemie, die die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina am 13. April veröffentlicht hat: Jedes Land, das akademisch etwas auf sich hält, hat eine Akademie wie die Leopoldina, die in guter „alter” Tradition in ihrem Fachgebiet etablierte Wissenschaftler*innen zusammenbringe, um relevante Aspekte interdisziplinär zu betrachten: ethische Fragestellung in der Palliativmedizin können darunter genauso fallen wie Stellungnahmen zu gesellschaftlich relevanten Trends in Bildung oder Gesundheit. Meine persönliche Einschätzung war, dass mit der interdisziplinär erarbeiteten Adhoc-Stellungnahme über Ostern ein humanistischer Kraftakt volllzogen wurde, in der die Wissenschaft das getan hat, was sie am besten kann: Auf Grundlage akademischer Erkenntnisse erörtern, wie die Lage zu bewerten ist und welche Handlungsempfehlungen aus Sicht der Wissenschaft getroffen werden können.

Aus Sicht der Wissenschaft.

Nicht: Aus Sicht der Bevölkerung. Oder der Politik. Oder der Wirtschaft.

Und ebenso wenig mit Blick auf kluge Kommunikationsstrategie.

Als Kommunikationsberaterin hätte ich freilich auch auf den „Thomas-Effekt“ hingewiesen, die Tatsache also, dass die öffentliche Meinung kein Gremium akzeptiert, in dem zu wenig Frauen anwesend sind.

Als Kommunikationsberaterin hätte ich wahrscheinlich auch die Handlungsempfehlungen vor dem Hintergrund der betroffenen Interessensgruppen durchgespielt und einige Re-Paraphrasierungen empfohlen.

Als Kommunikationsberaterin hätte ich möglicherweise auch vor falsch-politisch deutbaren Aussagen wie wirtschaftspolitischen Erwägungen gewarnt.

Als Kommunikationsberaterin hätte ich, das ist ganz sicher, darum gebeten, dass sich jede einzelne Person vor Veröffentlichung des Statements mit der Tatsache auseinander setzen muss, wer die Empfänger der Nachricht sind: nicht andere Wissenschaftler*innen. Sondern wir alle. Nicht studiert. Alleinerziehend. Arm. Oder reich. Oder Migrant. Oder begriffsstutzig. Oder oder oder.

Vor allem hätte ich gesagt: Sagt in jeglicher Hinsicht und überall laut und deutlich, dass dies Empfehlungen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse sind und die eigentliche Anwendung den Praktikern obliege, die vor einem ganz anderen Hintergrund: mit Blick auf Partikulargruppen, entscheiden. Denn natürlich sagen dies die Beteiligten, aber sie sagen es nicht laut genug. Nicht oft genug. Nicht entschieden genug.

Vielleicht wirkt es banal ist für eine:n Wissenschafler:in. Solche Verständlichmachung muss aber zum ABC der Wissenschaftskommunikation gehören.

Die Coronakrise ist eine, wenn nicht die, Chance für wissenschaftliche Expert*innen, die gesellschaftliche Relevanz akademischer Forschung aufzuzeigen. Versemmelt es nicht! Bitte.

Dieser Beitrag wurde auch beim PR-Journal veröffentlicht.

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