Post-COVID-Umweltperspektiven in Lateinamerika und der Karibik
„Es ist verfrüht, von einer nahen Post-COVID-Zeit für Lateinamerika und die Karibik zu sprechen, denn trotz der Heterogenität der Region waren die sozialen Ungleichheiten und die mangelnde Befriedigung der Grundbedürfnisse in den meisten Ländern der zündende Faktor einer humanitären Katastrophe mit Epizentrum in Brasilien.“ Welche gravierenden Folgen die COVID-19-Pandemie für die Umwelt in Lateinamerika und der Karibik hat, erläutert Dr. María Angela Torres Kremers in ihrem Expert Statement.
Die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen sind beispiellos: 7,7% Schrumpfung des BIP (ECLAC, 2021), 60,1% informelle Beschäftigung, mehr als die Hälfte der Arbeiter*innen ohne soziale Absicherung (ECLAC, 2020), hohe Ungleichheit mit einem durchschnittlichen GINI Koeffizienten von 0,46 (WB, 2020). Diese harte menschliche und wirtschaftliche Realität stellt die Entwicklungsmodelle in der Region in Frage, die auf der massiven Ausbeutung und dem Export von Rohstoffen, dem Wettlauf um die Eingliederung in die globalen Märkte und der Suche nach ausländischen Investitionen um jeden Preis basieren und in Konsequenz schwerwiegenden Auswirkungen auf die ökologischen Grundlagen der Region nach sich ziehen. Dieses Model ist ohne Zweifel eine massiv ausgeweitete Fortsetzung von Prinzipien der Kolonialisierung.
Die Pandemie verschärft weiterhin die schwierigen Bedingungen, unter denen ein großer Teil der Bevölkerung in allen Ländern der Region bereits litt, wie der Ausbruch gewaltsamer Proteste in Chile (2019) zeigte –dem vermeintlichen Vorbild für die Entwicklung in der Region. Hinter den Preiserhöhungen im chilenischen öffentlichen Nahverkehr steckte unteranderem auch das unerbittliche privatisierte System der Trinkwasserversorgung, bei dem zum Beispiel Bevölkerungsgruppen in relativ trockenen Gebieten mit Avocado-Produzenten um Wasser konkurrieren müssen. Der globale Atlas der Umweltkonflikte (EJAtlas, 2020) weist auf 364 wasserbezogene Umweltkonflikte in Lateinamerika hin.
Wir leben in einer „Umwelttragödie“, wie Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen in einer kürzlich erschienenen ECLAC-Publikation die Umweltsituation in Lateinamerika bezeichneten. Die Bilder der Waldbrände im Amazonasgebiet, die um die Welt gingen, sind die Warnglocke für Lateinamerikaner*innen und die Welt. Wenn das so weitergeht, sind 40 % der globalen Biodiversität, ein Viertel der weltweiten Wälder und 30 % der weltweiten Süßwasserquellen in Gefahr.
Die Region befindet sich an einem Kipppunkt, da die „unkontrollierte“ Veränderung der Landnutzung feuchte und trockene Ökosysteme und Savannen zerstört hat, die bis vor kurzem noch Reservate, Teil von Schutzgebieten oder Lebensraum für zerstreute Menschen und Tiere. Die Abholzungsrate ist laut The Nature Conservancy dreimal so hoch wie der globale Durchschnitt, und das Risiko des Verlusts der biologischen Vielfalt ist laut WWF das höchste der Welt.
Die Verwundbarkeit der indigenen, afroamerikanischen und bäuerlichen Gemeinschaften in diesen Regionen war bereits vor der Pandemie sehr hoch. Aber dort, wo der Abbau stattfindet, sind diese am stärksten von physischer Bedrohung, Vertreibung und Zerstörung ihrer Lebensräume betroffen. Vier Länder in der Region, Brasilien, Kolumbien, Honduras und Mexiko, gelten zusammen mit den Philippinen als die weltweit gefährlichsten für Umweltaktivisten (Global Witness, 2020). Auch Mitarbeiter*innen der Verwaltung in Naturparks, Wissenschaftler*innen, Umweltjournalist*innen und zivil gesellschaftliche Vereinigungen werden für ihr Engagement bedroht.
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Die Ursachen für diese Umweltkatastrophe sind unter anderem:
- Die Etablierung von Industriekulturen wie der großflächige Anbau von Ölpalmen, Zuckerrohr, Soja, Avocado, Kakao, Holzwälder u.a. in Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Honduras, Peru, Chile.
- Die Gewinnung von Edelhölzern in Brasilien, Peru, Kolumbien, Paraguay.
- Illegaler Goldabbau in Peru, Kolumbien, Brasilien, Venezuela.
- Ölförderung, Fracking und Verschmutzung durch Öl und Abfälle dieser Tätigkeit in Ecuador, Kolumbien, Argentinien.
- Transport-Korridore, insbesondere im Amazonasgebiet im Rahmen der Regionalen Integrationsinitiative südamerikanischer Infrastruktur, IIRSA.
- Extensive Viehzucht in Brasilien, Kolumbien.
- Energie- und Bergbau-Megaprojekte in Brasilien, Kolumbien, Peru, Chile.
- Illegaler Anbau von Pflanzen zur Produktion von Kokain, Opium, Cannabis in Brasilien, Bolivien, Kolumbien, Paraguay, Peru, Venezuela.
Die Möglichkeiten, aus diesem Scheideweg zwischen Umweltvernichtung und sozialer Ungleichheit herauszukommen, hängen davon ab, welche Maßnahmen die derzeitigen Regierungen beschlossen haben
- zur Eindämmung und Überwindung der Gesundheitskrise,
- zur Reaktivierung der Wirtschaft und
- für eine langfristige Erholung.
Bei der Erholung ist es entscheidend, wie viel Bedeutung der Einbeziehung von Umweltvariablen und der gemeinsamen partizipativen Governance unter Einbeziehung der zivilgesellschaftlichen Stakeholder beigemessen wird, um aus der Falle nicht nachhaltiger Entwicklungsmodelle herauszukommen, in der sich die Länder befinden.
In diesem Sinne hat die Allianz von NGOs „Nachhaltiges Lateinamerika“ (Nov.2020) Maßnahmen (oder deren vorläufige Formulierung) von 26 Ländern untersucht: Nur 15 Länder haben bis jetzt an Wiederherstellungsplänen gearbeitet. Von diesen werden Umweltaspekte nur in den Dokumenten von Chile, Kolumbien und Costa Rica berücksichtigt. Keiner der untersuchten Länder hatte Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Schutz der biologischen Vielfalt oder dem Verlust natürlicher Lebensräume erwähnt, die vermutlich ein Risiko für Krankheiten und Pandemien wie das Coronavirus sind, aber auch der Reichtum der Region bedeutet. Es fehlt also ein umfassenderer und systemischer Ansatz als Voraussetzung für die Problemlösung.
Parallel zu den nicht gerade nachhaltigen Ereignissen, die vorher erwähnt wurden, gibt es andere, die bei der Stärkung der Kapazitäten von Gemeinden voranschreiten oder die Arbeitsergebnisse der Gemeinden selbst sind, um Entwicklungsmodelle von der lokalen Ebene aus in eine nachhaltige Richtung hin zu modifizieren:
- Das Escazú-Abkommen, das am 22. April 2021 in Kraft tritt, ist das erste Umweltabkommen für Lateinamerika und die Karibik. Sein Ziel ist es, die vollständige und wirksame Umsetzung der Rechte auf Zugang zu Umweltinformationen, auf Beteiligung der Öffentlichkeit an umweltbezogenen Entscheidungsprozessen und auf Zugang zu den Gerichten in Umweltangelegenheiten zu gewährleisten.
- Initiativen und Bewegungen für die Ernährungssouveränität in Brasilien, der Andenregion, Mittelamerika, Mexiko und Kuba. Diese fördern die Agrarökologie sowie bäuerliche und indigene Landwirtschaft, geleitet von ökonomischen und ökologischen Überlegungen (Schutz und Reproduktion der Agro-Biodiversität der Region – Ursprungszentrum von Mais, Kartoffeln, Tomaten, Bohnen, Quinoa u.a.).
- Eine starke und organisierte indigene Bewegung, die gelernt hat, im Rahmen der Einforderung ihrer Rechte auf der Grundlage internationaler Abkommen und Konventionen einzufordern und zu verteidigen.
Das Aufkeimen eines biozentrischen Paradigmas des Umweltschutzes, das den Fokus auf die Rechte der Natur setzt, als Alternative zum westlichen (anthropozentrischen) Paradigma.
Für eine wachsende Zahl von Akademiker*innen, Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen zivil-gesellschaftlicher Organisationen, Entscheidungsträger*innen, Journalist*innen und Medien der Region erfordert jede Veränderung in Richtung Nachhaltigkeit, das Potential des Territoriums durch trans- und interdisziplinäre Prozesse zu erkennen. Auf dieser Ebene gibt es zahlreiche Stimmen, die eine „Entkolonialisierung“ der Konzepte der Nachhaltigen Entwicklung fördern.
Fazit
Zusammenfassend kann man noch nicht absehen, wie die Regierungen der Länder Lateinamerikas und der Karibik die schwerwiegenden Auswirkungen der Pandemie bewältigen werden. Es wäre jedoch kontraproduktiv, dass – wie in der Krise 2008 – erneut Politiken und Maßnahmen implementiert werden, die den erforderlichen Paradigmenwechsel von ungebremstem Wirtschaftswachstum hin zu einer sozial-ökologischen Transformation ignorieren.
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