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Auf den Straßen brennen Kopftücher

Ein Beitrag von Arash Guitoo

Arash hat im Iran Jura und Politikwissenschaft studiert und an der Christian-Albrechts-Universität in Islamwissenschaft zum Thema gleichgeschlechtlicher Begierde im Iran promoviert.

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Veröffentlicht: 11.01.2023

Lesezeit: 9 Minuten

Letzte Änderung: 31.08.2023

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  • #iran
  • #krise

Siebenundachtzig Jahre nach dem Dekret von Reza Schah ist der Kampf zwischen Modernismus und Traditionalismus wieder entbrannt. Das Expert Statement von Arash Guitoo zum Anlass der laufenden Proteste und des 87. Jahrestags der Entschleierungspolitik in Iran.

Das Statement von Arash Guitoo basiert auf einer wissenschaftlichen Einordnung teilweise lange andauernder Prozesse im Iran. Der historische Einstieg ist in diesem Text nur in sehr kurzer Form zum besseren Verständnis zusammengefasst. Die vollständige Analyse und den historischen Hintergrund, insbesondere auch zum Geschlechterverständnis der vormodernen iranischen Gesellschaft, haben wir ebenfalls in unserem Newsroom veröffentlicht.

Von der top-down-Modernisierung zum islamischen Staat

Vor 87 Jahren, am 8. Januar 1936, erließ der iranische König Reza Schah Pahlavi eine neue Kleiderordnung, die die iranische Gesellschaft zu jener Zeit in Aufruhr versetzte: mit der Abschaffung des Tschadors und der Gesichtsverhüllung sollten Frauen in der Öffentlichkeit westliche Kleidung tragen. Reza Schah wollte eine bis dahin sehr traditionelle iranische Gesellschaft top-down modernisieren, begleitet von einer modernistischen Elite in den Großstädten.

Die Maßnahmen wurden teilweise mit Zwang umgesetzt und führten, begleitet von den lautstarken Protesten der religiösen Gruppierungen, zu sozialen Konflikten und Unruhen. Besonders die Kluft zwischen der städtischen Mittel- und Oberschicht und den traditionelleren Milieus wurde immer stärker, spätestens, seit es Mitte der 1960er Jahre zu einer verstärkten Abwanderung aus dem Land in die industriellen und städtischen Zentren war und die traditionell geprägten Schichten direkt mit dem freien Lebensstil konfrontiert waren. Mit der islamischen Revolution von 1979 wurde schließlich der Iran zur islamischen Republik und die Mullahs konnten als religiöse Oberhäupter ihr regressives Gesellschaftsbild autoritär umsetzen.

Das Geschlechterbild und die Geschlechterpolitik dieses Regimes beruht seitdem auf der Ungleichbehandlung der Geschlechter und der Aufrechterhaltung der sexuellen „Hygiene“ der Gesellschaft.

Hoffnung durch Austausch und Bildung

In den letzten Jahren, in denen das Regime vor allem mit aufwändigen religiösen Straßenumzügen beschäftigt war, ging die Zahl der Studienanfänger*innen in die Millionen, durchschnittlich 50 Prozent von ihnen sind Frauen. Die Zahl der qualifizierten erwerbstätigen Frauen wuchs, und der allgemeine Niedergang der Volkswirtschaft stärkte die Position der geldverdienenden Frauen in den privaten Haushalten.

Zusätzlich zu der ständigen Beschallung über die Märtyrer von Karbala im nationalen Rundfunk und dem wöchentlichen Gebet für die Rückkehr des verschollenen Imams haben sich die Iraner*innen weiterentwickelt und durch Fernsehen, Internet und Bücher einen Austausch untereinander und mit der Welt etabliert, den der Staat nicht erwartet hatte. Während der Staat weiterhin ein reaktionäres patriarchalisches Geschlechterbild propagiert und Analogien wie Obst und Ungeziefer für Frauen und Männer verwendet, deren Kontakt nur zum Verderben führt, haben neue Generationen iranischer Eltern, die sich an nicht-autoritären Erziehungsmodellen orientieren, Kinder aufgezogen, die selbstbestimmter und gleichheitsliebender sind.

Trotz der massiven Investitionen in die religiöse Erziehung der Gesellschaft durch Rundfunkprogramme, Religionsunterricht in den Schulen, Förderung von Moscheen und ihren Aktivitätszentren, trotz der massiven Zensur und der ernsthaften Verfolgung jedes Gedankens, der die Herrschaft Gottes nach Ansicht der Mullahs auf Erden in Frage stellt, zeigt sich die heutige iranische Gesellschaft von der Idee der Religion als organisierendes Prinzip des gesellschaftlichen und privaten Lebens weiter entfernt als je zuvor in ihrer Geschichte. In einer vom Gamaan-Institut im Jahr 2020 durchgeführten Meinungsumfrage gaben fast 70 % der 50 000 Teilnehmer (aus dem Iran) an, dass sie sich nicht der schiitischen Religion zugehörig fühlen. 70 % sprachen sich gegen die Zwangsverschleierung aus, und nur 14 % der Teilnehmer wollten erneut, dass die Religion die Quelle der Gesetzgebung sein sollte.

Auf den Straßen brennen Kopftücher

Siebenundachtzig Jahre nach dem Dekret von Reza Schah ist der Kampf zwischen Modernismus und Traditionalismus wieder entbrannt. Diesmal steht auf der einen Seite des Kampfes ein ideologisch bankrottes und strukturell nicht reformierbares Regime, das sein Wesen und seine Ideologie nur mit nackter Gewalt schützen kann, und auf der anderen Seite eine Bevölkerung, die auf den Straßen nach Demokratie, Gleichheit und individueller Freiheit schreit.

Während vor siebenundachtzig Jahren die modernistische Elite und der Schah die traditionelle Gesellschaft in Aufruhr versetzten, brennen diesmal überall auf den iranischen Straßen Kopftücher in Ablehnung der traditionalistischen religiösen Ordnung, die die autoritäre Theokratie aufrechtzuerhalten versucht. Ein Merkmal der aktuellen Proteste, das Hoffnung auf ihre Nachhaltigkeit macht, ist, dass die Demonstrant*innen im Iran eine Vision von der Gesellschaft haben, die so sehr mit den Grundprinzipien des derzeitigen Regimes kollidiert, dass die Fortsetzung des Status quo unmöglich erscheint. Was bleibt von einer theokratischen Diktatur als Kontrollmaßnahme übrig, wenn ihr die Bestimmung über die moralische Kontrolle der Gesellschaft entzogen und die Religion zur optionalen Privatsache gemacht wird? Welche Maßnahmen gedenkt die Diktatur zu ergreifen, um die Bürger*innen einzuschüchtern und zu unterdrücken, wenn der öffentliche Raum wieder zu einem freien Ort wird, an dem die Menschen die Kleidung ihrer Wahl tragen und ungestört von der Einmischung der öffentlichen Hand Kontakt zueinander haben dürfen?

Die heutigen Proteste im Iran sind sicherlich eine der fortschrittlichsten Bewegungen in der Region in den letzten Jahrzehnten, wenn nicht überhaupt. In einer Zeit, in der man eher wirtschaftlich motivierte Proteste erwartet hätte, zeigen die Menschen im Iran durch ihre Slogans, Protestaktionen, Sprache, Kunst und Symbolik, dass es ihnen nicht nur um die Überwindung einer korrupten und brutalen Diktatur oder um den Überdruss an der Armut geht, sondern um den Wiederaufbau der Gesellschaft auf der Grundlage neuer Werte. Das vermittelt die Collage aus Bildern und Nachrichten von den Protesten, die man aus der Ferne über die Medien erhält: Vom Nordwesten bis zum Südosten rufen Frauen und Männer unermüdlich „Frau – Leben – Freiheit“ auf den Straßen, auf dem Campus der Universitäten, auf den Schulhöfen, bei den Beerdigungen von Menschen, die von den Unterdrückungskräften des Regimes getötet wurden. Inzwischen steht auf den Gräbern der Getöteten nicht nur der Name des Vaters, sondern auch der der Mutter, deren Namen man vor 100 Jahren nicht einmal aussprechen konnte. Bei den Trauerfeiern werden statt des Korans revolutionäre Lieder und regimefeindliche Slogans gesungen.

Eine Bewegung junger Menschen

Die Märtyrer*innen der Bewegung sind selbst junge Menschen, denen mit Videos gedacht wird, die sie beim Tanzen, Singen, Lachen oder Pizzabacken zeigen. Es sind Menschen, deren Sehnsucht nach dem diesseitigen Glück, nach einem „normalen Leben“, für die Diktatur zu groß war und zur Auslöschung ihres Lebens führte.

Nach der Hinrichtung des Demonstranten Majid Reza Rahnavard strahlte das Regime ein Interview mit ihm aus, in dem er sich kurz vor seiner Hinrichtung, offensichtlich von Folter gezeichnet, wünschte, dass die Menschen bei seiner Trauerfeier tanzen und singen würden, anstatt zu beten und den Koran zu rezitieren. Das Regime hoffte, mit diesem Interview den Demonstranten wegen seiner Gottlosigkeit bloßzustellen, aber für viele Iraner*innen haben diese letzten Worte seinen Heldenstatus erhöht.

Eines der zentralen Themen des Kampfes der Student*innen in den letzten Tagen war der Kampf um die Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Mensen der Universitäten. Tagelang speisten Studentinnen und Studenten gemeinsam im Innenhof und vor den Mensen, zu denen ihnen der Zugang verwehrt wurde.

Die Anwesenheit von Frauen ohne Kopftuch im ganzen Land und selbst in Kleinstädten mit besonders konservativer Bevölkerung ist bemerkenswert. Ein solches Verhalten wäre vor 20 Jahren aufgrund des sozialen Drucks der Familien noch undenkbar gewesen. Dafür hätte man nicht einmal eine Sittenpolizei gebraucht. Jetzt werden überall dort, wo die konservative Bevölkerung sonst auf die Einhaltung von Verhaltensregeln verpflichtet war, diese Regeln nicht mehr beachtet und die Gesellschaft zeigt sich viel toleranter als noch einige Jahrzehnte zuvor.

Menschen – und vor allem junge Frauen – bieten kostenlose Umarmungen an, was nicht nur ein Akt der politischen Solidarität ist, sondern auch ein Akt der Enttabuisierung und Entsexualisierung des zwischengeschlechtlichen Körperkontakts.

Gegen eine religiöse und vormoderne Geschlechterordnung

Einer der fortschrittlichsten Slogans dieser Proteste, der überall auf den Straßen des Landes skandiert werden wird, ist einer, bei dem Männer rufen: „Du bist der Perverse, du bist der Lüstling“, worauf Frauen antworten: „Ich bin eine selbstbestimmte (freie) Frau“. Dieser Slogan richtet sich gegen jene Männer, die die Verhüllung der Frauen als eine Notwendigkeit für die Sicherung der moralischen Gesundheit der Gesellschaft ansehen. Er greift eine der Grundprämissen der vormodernen Geschlechterordnung an, in der Frauen verhüllt werden sollen, um die Triebe der Männer zu kontrollieren, zugunsten einer Anthropologie, in der die menschlichen Affekte durch Selbstkontrolle gesteuert werden und Menschen selbstbestimmt auf die Affekte anderer reagieren.

Seit Monaten reißen junge Menschen auf den Straßen des Iran die Turbane von Geistlichen herunter. Dies ist ein Akt der Entweihung des priesterlichen Gewandes und ein Zeichen für das Ende der Unantastbarkeit der religiösen Symbolik in der Gesellschaft. Auf den Protestschildern sind Slogans zu lesen, die gleiche Rechte für Angehörige aller Religionen und Weltanschauungen, einschließlich Bahais und Atheisten, fordern.

All diese Bilder lassen die Behauptung zu, dass die Proteste der letzten drei Monate Ausdruck eines substanziellen Konflikts zwischen einer Gesellschaft sind, die begonnen hat, die Diskurshoheit der Religion und der traditionellen Strukturen in Frage zu stellen und eine neue Gesellschaftsordnung zu idealisieren, und einer Diktatur, deren Existenz von der vorherrschenden rückwärtsgewandten, abgenutzten Ideologie abhängt. Die Bewegung 2022 ist eine solide Rückkehr des säkular-liberalen Diskurses nach dem Experiment der Rückkehr zur Religion. Es sind jetzt Iraner*innen aus der Mitte der Gesellschaft, die landesweit für Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, und zwar weder unter dem Einfluss westlicher Medien noch irgendwelcher ominösen Gruppen, wie es in der Regimepropaganda immer heißt. Damit will ich keineswegs euphorisch behaupten, dass sich die Gesellschaft vollständig von den patriarchalischen vormodernen Vorstellungen gelöst hat, aber man kann mit Sicherheit sagen, dass die Religion ihren Zenit als vorherrschende Ideologie im Iran längst überschritten hat und die Gesellschaft sich in einem historischen Moment befindet, in dem andere Ideen der sozialen Organisation der Religion die Stirn bieten können und dabei die Idee einer liberalen, säkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung der Hauptherausforderer ist.

Wenn Sie mich fragen, ob diese Bewegung zu einer Revolution führen wird, antworte ich: „Sehen Sie genau hin, sie ist bereits da!“

Fortsetzung steht bereit

Siebenundachtzig Jahre nach dem Dekret von Reza Schah ist der Kampf zwischen Modernismus und Traditionalismus wieder entbrannt. Hintergrundartikel zum Expert Statement von Arash Guitoo über die historischen Entwicklungen im Iran.

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