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Ausgangspunkte der Unterdrückung im Iran

Ein Beitrag von Arash Guitoo

Arash hat im Iran Jura und Politikwissenschaft studiert und an der Christian-Albrechts-Universität in Islamwissenschaft zum Thema gleichgeschlechtlicher Begierde im Iran promoviert.

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Veröffentlicht: 11.01.2023

Lesezeit: 19 Minuten

Letzte Änderung: 31.08.2023

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Siebenundachtzig Jahre nach dem Dekret von Reza Schah ist der Kampf zwischen Modernismus und Traditionalismus wieder entbrannt. Hintergrundartikel zum Expert Statement von Arash Guitoo über die historischen Entwicklungen im Iran.

Diese Analyse ist ein Hintergrundartikel zum Expert Statement von Arash Guitoo zu den aktuellen Protesten im Iran.

1936 – Das Ende der Verschleierung im Iran?

Am 8. Januar 1936, also vor 87 Jahren, erließ der iranische König Reza Schah Pahlavi (reg. 1925 –1941) ein Dekret, das eine neue Kleiderordnung anordnete, die die iranische Gesellschaft zu jener Zeit in Aufruhr versetzte. Sie enthielt die Abschaffung des Tschadors und der Gesichtsverhüllung für Frauen, nach den neuen Vorschriften sollten Frauen in der Öffentlichkeit westliche Kleidung (Hüte, Mäntel, Jacken, Mäntel, Röcke usw.) tragen. Auch wenn es theoretisch möglich war, die religiös vorgeschriebenen Grenzen einzuhalten – nämlich die Bedeckung der Haare sowie des Körpers mit Ausnahme des Gesichts, der Hände und Füße – so sorgten die neuen Kleidervorschriften doch für große Empörung in der Gesellschaft.

Abgesehen von der neu entstandenen modernistischen Klasse, einer Elite, die mit der Idee der Modernisierung sympathisierte, war die iranische Gesellschaft recht traditionell. Die modernistische Elite gab jedoch den Ton in gesellschaftspolitischen Fragen an, nachdem Reza Schah an die Macht gekommen war und beabsichtigte, die Gesellschaft top-down zu modernisieren. Einer der Schritte, die die Modernist*innen als zentral für die Überwindung der Rückständigkeit des Landes ansahen, war die Befreiung der Frauen von der Vollverschleierung und die Abschaffung der Geschlechtertrennung, die (zu Recht) als Hindernis für die Teilhabe der Frauen an der Gesellschaft angesehen wurde. Bereits die iranischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, wie Mirza Fath-Ali Akhundzadeh (1812 – 1878) oder Mirza Aqa Khan Kermani (1854 – 1896/97), hatten in ihren Schriften theoretische Arbeit gegen die Geschlechtertrennung, die Verschleierung und die soziale Ausgrenzung von Frauen geleistet und diese als einen der zentralen Gründe für die Rückständigkeit der iranischen Gesellschaft erklärt. Nun war ein Monarch an der Macht, der die rasche Modernisierung des Landes anstrebte, und zu dieser Modernisierungspolitik gehörte eben auch ein radikaler Wandel in der Frauenpolitik.

Tradition und Religion im Iran

Um den radikalen Charakter seiner Reformen zu verstehen, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Geschlechterpolitik und die Geschlechterbeziehungen der vormodernen iranischen Gesellschaft zu werfen. Im Mittelpunkt der vormodernen Geschlechterpolitik stand das Ziel, außereheliche und voreheliche Kontakte zwischen den Geschlechtern zu verhindern. Dieses Ziel lässt sich durch die patriarchalische Ordnung erklären, in der die Ehe als Tauschgeschäft fungierte und die sexuelle „Integrität“ der Frauen als Faktor der „Preisbestimmung“ in diesem Tauschgeschäft eine entscheidende Rolle spielte. Um das Sexualverhalten der Mitglieder der Gesellschaft zu kontrollieren, hatten die vormodernen muslimischen Gesellschaften Strategien entwickelt, die darauf abzielten, den Sexualtrieb eher durch die Reduzierung äußerer Reize als durch normative Verinnerlichung zu kontrollieren. Zwei Erscheinungsformen der externen Kontrolle des Sexualverhaltens sind die Geschlechtertrennung und die Verschleierung der Frauen.

Die Sphären der vormodernen iranischen Stadtgesellschaft waren stark voneinander getrennt. Der öffentliche Raum war ein männlicher Raum und die Innenräume der Häuser waren ein weiblicher Raum. Das Betreten der jeweiligen Domäne durch das andere Geschlecht war strengen Regeln unterworfen. Noch heute finden wir in iranischen Dörfern und Städten viele alte Türen, die mit zwei verschiedenen Türklopfern für Männer und Frauen ausgestattet sind, damit immer die richtige Person die Tür öffnet oder der Situation entsprechend gekleidet ist und der/die Besucher*in in die für ihn zugänglichen Bereiche geleitet wird. Frauen hatten in der Regel nichts in der Öffentlichkeit zu suchen, es sei denn, es handelte sich um gezielte Aktivitäten. Wenn sie sich in der Öffentlichkeit aufhielten, sollten sie in diesem männlichen Raum unsichtbar sein, da ihre Gesichter, Körper, Haare und Stimmen als Auslöser männlicher Begierde galten und dementsprechend nicht für die Ohren und Augen fremder Männer bestimmt waren. Für Frauen bedeutete dies Unsichtbarkeit in der Öffentlichkeit durch Vollverschleierung und massive Einschränkung des Zugangs zu vielen öffentlichen Räumen. Der Ausschluss von Frauen wurde auch nicht sonderlich bedauert, denn in der vorherrschenden frauenfeindlichen Anthropologie war der „schwache“ Verstand der Frauen ohnehin nicht geeignet, an gesellschaftlich relevantem Wissen teilzuhaben. Für die öffentlichen Räume, die Frauen nutzen durften (Straßen, Bäder, Moscheen), gab es eine räumliche oder zeitliche Geschlechtertrennung, deren Einhaltung auch von den Marktaufsehern des jeweiligen Herrschers überwacht wurde.

In der vormodernen traditionellen Gesellschaft war die Überwachung der Einhaltung der Geschlechtsregel jedoch vordergründig eine private Angelegenheit, da die Familien ein Interesse am Sexualverhalten ihrer Mitglieder – insbesondere der Frauen – hatten. Hier kommt die zweite Säule der traditionellen Sexualpolitik ins Spiel, nämlich die Kontrolle des Sexuallebens der Frauen durch ihre eigenen Familien. Die sexuelle „Integrität“ der weiblichen Familienmitglieder ist nach dieser Auffassung das soziale Kapital der Familie und insbesondere der Männer der Familie. Der Schutz der Ehre der Männer liegt nach dieser Auffassung im „Schutz“ der Sexualität der Schwestern, Töchter oder Ehefrauen. Der Verlust der Ehre durch einen Skandal in der Familie konnte schwerwiegende soziale und wirtschaftliche Folgen für die Familie haben. Kurz gesagt, es oblag den männlichen Verwandten (und wurde von ihnen erwartet), das soziale Leben der Frauen zu kontrollieren und zu regeln. Die Religion liefert den normativen Rahmen, der den Fortbestand dieser patriarchalischen Lebensweise gewährleistet und als Legitimationsgrundlage für die herrschende Ordnung dient.

Das Bild der traditionellen Ordnung spiegelt das Leben in den städtischen Räumen der vormodernen iranischen Gesellschaft wider und gilt nur bedingt für die Land- und Nomadenbevölkerung, wo die Mobilität der Frauen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Rolle sowie der Lebensbedingungen keine allzu sperrige Kleidung zuließ. Auf dem Lande war die soziale Kontrolle ausgeprägter, da dort jeder jeden kannte.

Reaktionen und Folgen einer Modernisierung von oben

Als Reza Schah seine neue Frauenpolitik durchsetzte, konnte das Zeigen von Frauengesichtern in städtischen Gebieten jedoch immer noch einen Skandal auslösen, zum Beispiel als seine Frau Tajolmoluk 1928 einen Schrein ohne Gesichtsverhüllung besuchte, wurden die örtlichen Mullahs sehr laut, aber Reza Schah wies sie schnell zurecht. Im Jahr 1936 traten die Frauen der königlichen Familie in der Öffentlichkeit in westlicher Kleidung auf, und dies wurde auch allen Frauen der Gesellschaft vorgeschrieben. Vielen Männern in der damaligen Gesellschaft, selbst den die modernistischen Beamten, sorgte die Vorstellung, dass ihre Frauen, deren Namen sie bis dahin nur selten in der Öffentlichkeit ausgesprochen hatten, nun unverschleiert in der Gesellschaft auftreten mussten für großes Unbehagen. Auch für viele Frauen muss die Vorstellung, unverschleiert aus dem Haus zu gehen und gesehen zu werden, eine ziemlich schwierige Vorstellung gewesen sein. Hinzu kam, dass die Entscheidung über die angemessene Kleidung in der Öffentlichkeit und die damit verbundenen Kosten eine zu große Belastung darstellten. Die neuen Bekleidungsvorschriften führten jedoch vor allem dazu, dass traditionelle Familien ihren Frauen verbaten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, und diese Frauen jahrelang in privaten Räumen blieben.

Lautstarke Gegner der Reformen von Reza Schah waren erwartungsgemäß die Kleriker, die den Islam durch die Kleiderordnung verlorengehen sahen. Es gibt eine Reihe von Schriften der damaligen Kleriker, die zu begründen versuchen, warum die vollständige Verhüllung der Frauen in der Öffentlichkeit notwendig war. Die Maßnahmen wurden gegen den Widerstand der Gesellschaft mit Zwang durchgesetzt und führten zu sozialen Konflikten, Unruhen und Konfrontationen mit der Staatsmacht. Gleichzeitig unternahm der Staat Schritte, um das Bild der unverschleierten Frau für die Gesellschaft zu normalisieren. So wurden die lokalen Behörden dazu angehalten, regelmäßige Bankette oder Gesellschaftsabende zu veranstalten, bei denen Männer, die im Staatsdienst standen, mit ihren modern gekleideten Ehefrauen erscheinen und tanzen sollten.

Die Reform der Kleiderordnung war nur ein kleiner Teil der Reformen Reza Schahs, die die Verbesserung der Situation der Frauen zum Ziel oder zur Folge hatten, wie die Einführung der Schulpflicht für Mädchen, die Ermöglichung des Zugangs von Frauen zu höherer Bildung, die Einstellung von Frauen in den öffentlichen Dienst, die Erschwerung der Polygynie, die Kodifizierung des Gesetzes, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die strenge Kleiderordnung blieb bis zur Abdankung Reza Schahs infolge der anglo-sowjetischen Invasion und Besetzung im Jahr 1941 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt war Teheran eine Stadt der Promenaden, Cafés und Hotels, in denen Frauen und Männer der neu entstandenen Mittelschicht (die übrigens größtenteils aus der alten Aristokratie stammten) in Cafés zusammensaßen und Kaffee tranken, während Musik von Schallplatten lief.

Sein Sohn, Mohammad Reza Schah (reg. 1941 – 1979), verfolgte eine entspanntere Kleidungspolitik. Die Jahre zwischen 1941 und 1979 sind wahrscheinlich die liberalsten Jahre in der iranischen Geschichte, wenn es um die Kleiderordnung für Frauen geht. Es stand den Frauen frei, Tschador oder Kopftuch zu tragen oder nicht. Bald tauchten Frauen mit Kopftuch oder Tschador wieder in der iranischen Öffentlichkeit auf. Die Gesichtsverhüllung kehrte jedoch – zum Glück – nicht zurück.

Kluft zwischen Moderne in der Stadt und Tradition auf dem Land

Trotz dieser Freiheit wurde die Verschleierung allmählich zu einem Klassenmerkmal. Wie sein Vater verfolgte auch Mohammad Reza Schah eine beschleunigte Modernisierungspolitik. Zu diesem Modernisierungsprogramm gehörte auch eine fortschrittliche Frauenpolitik, die sich durch die Förderung der Teilhabe von Frauen an der Gesellschaft auszeichnete. Das Idealbild der fortschrittlichen Frau in dieser Politik, war unverschleiert und modern gekleidet. Unter den Pahlavis erhielten Frauen Zugang zu Bildung, zum Arbeitsmarkt, zur medizinischen Versorgung und zum (aktiven und passiven) Wahlrecht. Die Gesetze zum Schutz der Familie von 1967 und 1975 verbesserten die Stellung der Frauen in der Familie, indem sie ihnen Rechte wie Scheidung und Sorgerecht für die Kinder einräumten. Bei all diesen Reformen standen prominente Geistliche stets an vorderster Front des Protests, und zwar stets mit dem Einwand, diese Reformen seien unislamisch oder führten zu moralischer Korruption.

Mohammadreza Schah konnte seine sozialen Pläne jedoch in den meisten Fällen durchsetzen und hatte auch bei seiner fortschrittlichen Politik die Unterstützung des Bildungsbürgertums und der urbanen Mittelschicht der Großstädte. Diese Politik verursachte jedoch eine kulturelle Kluft in der Gesellschaft zwischen denjenigen, die diese moderne Lebensweise bejahten und auslebten, und denjenigen Teilen der Gesellschaft, die diese Reformen und Freiheiten als Widerspruch zu den traditionellen religiösen Vorstellungen von Geschlechterrollen ansahen.

Die Landreformen, die Industrialisierung und der Mitte der 1960er Jahre einsetzende Wirtschaftsboom führten zu einer verstärkten Abwanderung vom Land in die industriellen und städtischen Zentren, wo die Arbeitskraft der Landbevölkerung als einfache Arbeiter*innen gefragt war. Nun wirkte der freie Lebensstil der städtischen Mittel- und Oberschicht entfremdend auf diese traditionellen Schichten. Der traditionelle patriarchalische Lebensstil, in dem der Schutz der sexuellen Integrität der Frauen durch Kontrolle und Einmischung im Privatleben sowie durch Verschleierung und Minimierung intergeschlechtlicher Kontakte im öffentlichen Leben ein zentrales Anliegen war, war in diesen Milieus besonders ausgeprägt. Unter diesen Bedingungen hatten Frauen aus den traditionellen Schichten aus zwei Gründen schlechte Aufstiegschancen: Erstens entsprach ihr Aussehen nicht dem vorherrschenden Idealbild der Frau. Zweitens waren sie starken Einschränkungen durch ihre Familien ausgesetzt, die die Gesellschaft nicht als sicher genug für ihre Frauen ansahen.

Diese Kluft zwischen der städtischen Mittel- und Oberschicht, die den gesellschaftspolitischen Ton angab und eine Sexualpolitik mit liberalisierenden Tendenzen verfolgte, und den traditionellen Milieus, die ihre eigene Lebensweise durch diese Liberalisierung bedroht sahen, spielte bei der Revolution von 1979 keine unbedeutende Rolle. Das heißt nicht, dass sich die Mittel- oder Oberschichten der Gesellschaft plötzlich vom traditionellen Rollenverständnis der Frau gelöst hätten und kein Interesse mehr daran hätten, das Sexualleben der jüngeren Generation zu kontrollieren, aber die Familienbeziehungen und Rollenvorstellungen waren bei den Privilegierten der Gesellschaft weitaus fortschrittlicher und liberaler als bei der übrigen Mehrheit.

Ideologisches Fundament der Revolution

Eine weitere ideologische Entwicklung in den 1970er Jahren, die sich auf den Verlauf der Revolution von 1979 auswirkte, war das Aufkommen der Idee der Rückkehr zum Eigenen in den Mittelschichten und Studentenmilieus als Ideologie des Widerstands und als Korrektur des Marxismus. Als „Eigenes“ standen zwei Optionen zur Verfügung: Nationalismus und Religion. Der Nationalismus wurde als Ideologie des Widerstands zunehmend unattraktiv, da der Schah mit der Zeit den nationalistischen Diskurs vereinnahmt hatte und der Nationalismus somit die Ideologie der Herrschaft war.

Der Islam und konkret der schiitische Islam wiederum war die Ideologie, die zu dieser Zeit als lokale Alternative für den antiimperialistischen Kampf und den politischen Widerstand sehr geeignet erschien und vor allem in der religiösen iranischen Gesellschaft mobilisierende Kraft besaß. Die Ideen der Vordenker der islamischen Revolution, die die gebildete Mittelschicht und die Student*innen mobilisierten, wie Schariati oder Al-e Ahmad, waren eine Mischung aus Marxismus und Islam. Der kulturelle Impuls zur Selbstidentifikation kam aus der Religion, und das kulturelle Unheil wurde im westlichen Lebensstil und der Konsumgesellschaft gesehen. Die „Frauenfrage“ war in den Diskussionen dieser Vordenker sehr präsent. Der Haupttenor der Beiträge lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Verwestlichung des Lebensstils der Frauen führt zu moralischer Korruption; die „Nacktheit“ der Frauen ist die Objektivierung und Instrumentalisierung ihres Körpers; das ungezügelte Sexualleben führt zum Verfall der Gesellschaft; Frauen sind nicht frei, solange sie sich nicht vom sexualisierten Blick auf ihren Körper befreien; die Gesellschaft braucht moralische Erziehung, um höhere Ziele zu erreichen. Es bedeutet die Lösung liegt in Schaffung einer „moralischen“ Sicherheit in der Gesellschaft durch die Regulierung und Kontrolle der Geschlechterbeziehungen. Diese Lösung, die den islamischen Akteuren der Revolution von 1979 für die Steuerung der Gesellschaft vorschwebte, war keine neue Erfindung, sondern die Wiederbelebung der patriarchalischen vormodernen Ordnung, in der die Sphären der Gesellschaft nach Geschlechtern getrennt sind, der Kontakt zwischen den Geschlechtern überwacht wird, die Frauen den Männern grundsätzlich untergeordnet sind und in ihren Lebensentscheidungen eine Fremdbestimmung zugelassen wird.

Islamisches Regime

Die Islamische Republik setzte dieses regressive Gesellschaftsbild nach der Revolution von 1979 um. Schon bald war die Kontrolle des Aussehens der Menschen, insbesondere der Frauen, eines der zentralen Mittel zur Machtdemonstration und Einschüchterung seitens des Regimes und im Namen der „moralischen Hygiene“ der Gesellschaft. Frauen, die in der Öffentlichkeit ein aus Sicht des Regimes unislamisches Erscheinungsbild an den Tag legten, wurden mit verbalen und körperlichen Misshandlungen, Verhaftung, Gefängnis, körperlichen Bestrafungen und Auspeitschung, im besten Fall nur mit Geldstrafen bedroht. Der öffentliche Raum wurde so weit wie möglich geschlechtersegregiert und islamisiert: In Ämtern und staatlichen Einrichtungen wurde der Umgang mit Kollegen des anderen Geschlechts kontrolliert; Bereiche wie Eingänge oder ganze Besucherbereiche und Kantinen wurden getrennt; an Universitäten war die Kontrolle über zwischengeschlechtliche Kontakte besonders ausgeprägt; unislamisch gekleideten Personen wurde der Zugang zu öffentlichen Orten (Flughäfen, Theatersälen, Kinos) verwehrt. Fernsehsendungen wurden islamisiert. Filme wurden massiv zensiert, selbst Drehbücher ausländischer Serien wurden moralisch umgeschrieben. Regimepropaganda war in den Schulen des Landes an der Tagesordnung.

Die Liste der Maßnahmen ist lang, und die frauenfeindliche Anthropologie der herrschenden Ideologie manifestiert sich auch nicht nur in der Kontrolle des Aussehens der Frauen. Nach der Revolution von 1979 bis heute sind Frauen Subjekt struktureller Diskriminierung auf verschiedenen Ebenen, von Berufsverboten bis hin zu systematischer Diskriminierung durch die Islamisierung des Zivil- und Strafrechts, was zu massiver Benachteiligung in ihren privaten Beziehungen führt. Die neuen Gesetze der Islamischen Republik, die auf dem islamischen Recht basieren, haben die Stellung der Frauen in ihrem Privatleben erheblich verschlechtert und ihre Chancen auf einen möglichen Ausweg aus prekären Situationen verringert. Die Möglichkeiten von Frauen, bei der Scheidung, die Initiative zu ergreifen, sind äußerst begrenzt. Männer hingegen können sich jederzeit von ihren Ehefrauen scheiden lassen. Was das Sorgerecht betrifft, so haben Frauen bis auf ein bestimmtes Alter des Kindes nur wenige Rechte. Männer und deren Väter haben das Sorgerecht für die Kinder. Männer können Frauen verbieten, arbeiten zu gehen oder auszureisen. Töchter erben die Hälfte des Anteils ihrer Brüder, und Ehefrauen erben ein Achtel bestimmter Besitztümer ihrer Ehemänner. Kinderheiraten sind erlaubt. Die Aussage von Frauen vor Gericht ist oft nur die Hälfte wert; das Blutgeld von Frauen (Entschädigung für Tötung) ist halb so hoch wie das von Männern. Das Konzept von Vergewaltigung in der Ehe existiert nicht und Frauen sind zum Beischlaf verpflichtet.

Zeit der Angst und Unterdrückung

Die Geschlechterpolitik der Islamischen Republik und die strukturelle Diskriminierung von Frauen haben sich in den letzten 44 Jahren kaum verändert. Alle oben genannten Beispiele stammen aus den aktuellen Gesetzen im Iran. Man kann sich fragen, warum die massiven Einschränkungen im Namen der Moral und diese strukturellen öffentlichen und privaten Repressionen sowie die massive Einschränkung der persönlichen Freiheit und Ungleichheit mehr als vier Jahrzehnte brauchten, um zum Thema von sozialen Protesten und Bewegungen zu werden.

Die erste Antwort zur Erklärung ist die Gewalt des Regimes. Schon in den ersten Tagen nach der Revolution von 1979 kam es zu öffentlichen Hinrichtungen von Menschen, die nach islamischem Recht für sexuelle „Vergehen“ bestraft wurden. Seit den 1980er Jahren gehören die in Zivil gekleideten Miliz des Regimes und andere Ordnungskräfte, die auf den Straßen patrouillieren, Autokontrollen durchführen, den Beziehungsstatus von Menschen überprüfen, jedem Hinweis auf Alkohol nachgehen, Taschenkontrollen durchführen, nach verbotenen Gegenständen suchen, Menschen beleidigen, belästigen und wegen ihres Aussehens verhaften, zum täglichen Bild in iranischen Städten. Die Überwachung der Einhaltung der „moralischen“ Regeln war von Anfang an ein identitätsstiftendes Kernstück des islamischen Regimes und ein Mittel, mit dem das Regime die Bürger*innen an seine Macht und Präsenz erinnert. Die Angst, mit den Moralhütern des Regimes in Konflikt zu geraten, ist unter den Iraner*innen, die nicht der vom Regime bevorzugten Lebensweise folgen, allgegenwärtig. Viele Iraner*innen wurden im Laufe der Zeit dazu gedrängt, ein Doppelleben zu führen: ein Privatleben, das viele verbotene Dinge beinhaltet, und ein öffentliches Auftreten, das darauf abzielt, den Konflikt mit den Moralhütern und der Ideologie des Regimes zu minimieren. Auch das Privatleben ist in der Islamischen Republik nicht vor der Einmischung des Regimes geschützt und ständig der Gefahr ausgesetzt, dass die Ordnungskräfte des Regimes in es eingreifen.

Dass die Gesellschaft die staatliche Überwachung des äußeren Erscheinungsbildes von Gesellschaftsmitgliedern und zwischengeschlechtlichen Kontakten, die Geschlechtertrennung und diskriminierende Strukturen gegenüber Frauen toleriert hat, ist jedoch nicht nur auf Angst, sondern auch auf patriarchalische Traditionsvorstellungen in der Gesellschaft selbst zurückzuführen. Einerseits fand die Geschlechterpolitik der Islamischen Republik Zustimmung bei jenen Teilen der Bevölkerung, deren traditionelle Lebensweise von den Eingriffen des neuen Regimes nicht berührt wurde und denen selbst das neue System Aufstiegschancen versprach. Religiosität wurde in der Islamischen Republik zu sozialem Kapital, und die bis dahin benachteiligten Bevölkerungsschichten erhielten die Chance, in irgendeiner Form am neuen Machtapparat teilzuhaben und aufzusteigen. Es war aber auch die Breite der Gesellschaft, die sich prinzipiell darauf einigte, die Sexualität der nächsten Generation zu kontrollieren und vorehelichen Sex zu verhindern. Es war auch die Breite der Gesellschaft, die den Frauen eine untergeordnete Rolle in der Beziehung zu ihren Ehemännern zubilligte und Eingriffe in ihr Leben im Namen der Familienehre zuließ. Die postrevolutionäre iranische Gesellschaft war sicherlich nicht immer mit der brutalen Moralpolitik des Regimes einverstanden, aber sie war weitgehend konservativ und religiös genug, um zumindest nicht nach einem Modell zu streben, das mehr Gleichheit und individuelle Freiheit versprach, und sie ließ sich teilweise und zuweilen durch das Schreckgespenst der zügellosen westlichen Gesellschaften abschrecken.

Wie gesagt, das Geschlechterbild und die Geschlechterpolitik des Regimes blieben ziemlich unverändert: Ungleichbehandlung der Geschlechter in Bezug auf die Religion, Aufrechterhaltung der sexuellen „Hygiene“ der Gesellschaft, d. h. Streben nach einer Gesellschaft ohne voreheliche oder außereheliche und nicht-heterosexuelle sexuelle Kontakte, was durch Strategien der Reduzierung äußerer Reize (für Männer) durch Verschleierung der Frauen und Zensur sowie Geschlechtertrennung und Überwachung der Beziehung zwischen den Geschlechtern und natürlich durch moralische Erziehung erreicht werden sollte.

In all den Jahren, in denen das Regime mit aufwändigen religiösen Straßenumzügen und der Idealisierung von Fatima, der Tochter des Propheten, die nach ihrer eigenen Erzähltradition zwischen 18 und 28 Jahre alt war, als sie als Mutter von vier Kindern starb, beschäftigt war, ging die Zahl der Studienanfänger*innen in die Millionen, von denen durchschnittlich 50 Prozent Frauen waren. Die Zahl der qualifizierten erwerbstätigen Frauen wuchs, und der allgemeine Niedergang der Volkswirtschaft stärkte die Position der geldverdienenden Frauen in den privaten Haushalten. Zusätzlich zu der ständigen Beschallung über die Märtyrer von Karbala in dem nationalen Rundfunk und dem wöchentlichen Gebet für die Rückkehr des verschollenen Imams haben sich die Iraner*innen durch Medien (Satellitenfernsehen und Internet), Bücher und den Austausch untereinander und mit der Welt auf andere Weise entwickelt, als es der Staat erwartet.

Während der Staat weiterhin ein reaktionäres patriarchalisches Geschlechterbild propagiert und Analogien wie Obst und Ungeziefer für Frauen und Männer verwendet, deren Kontakt nur zum Verderben führt, haben neue Generationen iranischer Eltern, die sich an nicht-autoritären Erziehungsmodellen orientieren, Kinder aufgezogen, die selbstbestimmter und gleichheitsliebender sind.

Trotz der massiven Investitionen in die religiöse Erziehung der Gesellschaft durch Rundfunkprogramme, Religionsunterricht in den Schulen, Förderung von Moscheen und ihren Aktivitätszentren, trotz der massiven Zensur und der ernsthaften Verfolgung jedes Gedankens, der die Herrschaft Gottes nach Ansicht der Mullahs auf Erden in Frage stellt, zeigt sich die heutige iranische Gesellschaft von der Idee der Religion als organisierendes Prinzip des gesellschaftlichen und privaten Lebens weiter entfernt als je zuvor in ihrer Geschichte. In einer vom Gamaan-Institut im Jahr 2020 durchgeführten Meinungsumfrage gaben fast 70 % der 50 000 Teilnehmer (aus dem Iran) an, dass sie sich nicht der schiitischen Religion zugehörig fühlen. 70 % sprachen sich gegen die Zwangsverschleierung aus, und nur 14 % der Teilnehmer wollten erneut, dass die Religion die Quelle der Gesetzgebung sein sollte.

Siebenundachtzig Jahre nach dem Dekret von Reza Schah ist nun der Kampf zwischen Modernismus und Traditionalismus wieder entbrannt. Arash Guitoo setzt in seinem Statement die Analyse der Hintergründe zu den aktuellen Protesten fort:

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