„In Umrissen lässt sich das digitale Museum bereits ausmachen“
„Der Begriff der ‚Digitalen Strategie‘ bleibt aber eine merkwürdige contradictio in adiecto. Strategien zielen auf Langfristigkeit, Planung und die Sicherheit strukturierter Abläufe, während das Digitale durch kurze Aufmerksamkeitszyklen, rapide technische Entwicklungen und ständiges Experimentieren mit neuen Möglichkeiten bestimmt ist. Um diesen Widerspruch aufzulösen, sollte der Fokus tatsächlich weniger auf dem Digitalen, sondern vor allem auf den Mitarbeiter*innen von Museen liegen. Sinnvolle Strategien sollten vor allem auf den breiten Aufbau von Digital Literacy und agiler Methodenkompetenz zielen.“ – Eines unserer #expertstatements von Dr. Johannes C. Bernhardt.
Wir leben in Zeiten von big history. Seit der Jahrtausendwende wird quer durch die Wissenschaften debattiert, ob Klimawandel, Ressourcenausbeutung und Umweltverschmutzung ein neues und ganz vom Menschen bestimmtes Erdzeitalter eingeläutet haben: das sogenannte Anthropozän. Als Gipfelpunkt menschlicher Herrschaft über den Planeten kann man die digitale Revolution sehen; man denke nur an Donald Trumps tägliche Tweets, die sich wie virale Speech Acts über den Globus verbreiten, internationale Krisen auslösen und mit der strikten Ablehnung eines Green Deal direkt auf die Umwelt durchschlagen. In einer vollständigen Kehrtwende hat der Einbruch von Covid-19 die Menschheit nun auf sich selbst zurückgeworfen und stellt viele Gewissheiten in Frage; das übliche Spiel von Relativierungen, Fake-News- Bezichtigungen und Verschwörungstheorien zerschellt an der Tatsächlichkeit von Todeszahlen. Ist das Anthropozän also schon wieder vorbei? Treten die Viralität menschlicher Kommunikation und die Tödlichkeit des Virus in ein neues und alles veränderndes Spannungsverhältnis? Befinden wir uns bereits an der Schwelle zu einem Virozän?
Museen stehen mitten in diesen Turbulenzen. Einerseits sind sie wie die Akteure in vielen anderen gesellschaftlichen Feldern und Branchen massiv betroffen: Nach Wochen der Schließung öffnen sie langsam wieder ihre Tore und arrangieren sich mit der „neuen Normalität“ und den andauernden Einschränkungen. Die langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar, tiefe Spuren wird der lockdown aber zweifellos hinterlassen. Einerseits werden verschobene Ausstellungen, das Wegbrechen von Einnahmen und ohnehin prekäre Finanzierungs- und Beschäftigungsverhältnisse wahrscheinlich auf Jahre nachwirken. Andererseits sind durch die Disruption des üblichen Betriebs aber auch neue Freiräume entstanden: Längst überfällige Modelle des Homeoffice und New Work sind über Nacht möglich geworden, das Digitale steht wie nie zuvor im Fokus und ein breites Nachdenken über die strukturelle Entwicklung der Institution hat eingesetzt. Man kann nur hoffen, dass der Krise zumindest in dieser Hinsicht etwas Positives abzugewinnen ist, bereits viele points of no return überschritten sind und ad-hoc-Maßnahmen nachhaltige Effekte auf die weitere Entwicklung haben werden.
Im Sprachduktus der Krise wird momentan oft angeführt, Museen und die Kultur an sich seien systemrelevant. Als Argument ist diese Bedeutungszuschreibung nachvollziehbar, ihre Implikationen sind es weniger. Denn letztlich trägt die Vorstellung der Systemrelevanz das eigentlich zu überwindende Problem nur weiter, dass „Kultur“ oft als klar definierter Sektor neben Politik, Wirtschaft oder Religion verstanden und eher mit „hochkultureller“ Freizeitbeschäftigung gleichgesetzt wird. Angesichts kulturwissenschaftlicher Debatten kann man auf dieses Problem aus einer Vielzahl von Blickwinkeln schauen. Versteht man Kultur etwa im Sinne der Kulturanthropologie als Verhandlungsraum gesellschaftlicher Sinnbildung, wirkt sie in alle gesellschaftlichen Felder: Wann immer politischen Argumenten, wirtschaftlichem Handeln oder religiösen Ritualen Sinnhaftigkeit zugesprochen wird, folgt dies kulturellen Codes oder gestaltet diese weiter. Aus dieser Perspektive kann man durchaus argumentieren, dass Kultur das entscheidende Gesamtsystem ist, direkt oder indirekt in alle Felder gesellschaftlichen Handelns wirkt und Museen ganz selbstverständlich umfasst. Die Behauptung von Systemrelevanz würde sich damit erübrigen – am Ende muss man schlicht entscheiden, ob man in einer sinnvollen Gesellschaft leben möchte oder nicht.
Auch ohne Systemisches bleibt die Frage nach der Relevanz berechtigt. Grundsätzlich können Museen eine hohe gesellschaftliche Relevanz entfalten, wenn sie ihre Inhalte affirmativ, kritisch oder spielerisch zu aktuellen Themen in Stellung bringen, Krisensituationen selbst zum Thema machen und eine Plattform für gesellschaftlichen Diskurs bieten. Museen können die Krise aus unterschiedlichen Perspektiven kontextualisieren, Reflexionen ihrer Bedeutung anstoßen und somit einen wichtigen Beitrag zu ihrer Bewältigung leisten. Wenn Ausstellungen wieder möglich werden, könnte man sich etwa das Thema „selbst“ vornehmen, die Besucher*innen ganz ins Zentrum stellen und in experimentellen Settings mit ihrer Existentialität konfrontieren. Angesichts allseitiger Viralität und Verunsicherung können Museen auf jeden Fall ein einzigartiges Kapital in die Waagschale werfen: In der Gesellschaft werden sie als höchst vertrauenswürdig angesehen. Wenn es also eine Zeit gibt, Museen zu offenen Thinktanks, Orten des Dialogs auf Augenhöhe und kulturell gestaltenden Akteuren im Zentrum der Gesellschaft zu entwickeln, dann ist sie jetzt.
Dem Digitalen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Zunächst dürften die alten Vorbehalte, die Digitalisierung von Sammlungen mache das Museum überflüssig, endgültig Geschichte sein. Während des lockdowns waren die digitalen Kanäle die einzig verbliebene Möglichkeit zum Austausch mit dem Publikum, einen stärkeren Kontrast zur vermeintlichen Infragestellung kann man sich nicht denken. Das Digitale als zentraler Treiber des gegenwärtigen Strukturwandels und der Kommunikation auf Augenhöhe wurde natürlich auch schon vor der Krise von vielen Museen genutzt, um die eigene Öffnung voranzutreiben. In der Anfangsphase der Krise dominierte zwar der Rückgriff auf Streamingformate, das Angebot von Online-Führungen und die Fortsetzung des üblichen Betriebs mit digitalen Mitteln. Inzwischen hat sich aber eine Vielzahl an spannenden Angeboten entwickelt, die stärker auf die Krise reagieren und die per se auf Interaktion und Partizipation angelegte Kultur der Digitalität direkter adressieren. Blickt man auf die letzten Wochen zurück, hat sich allerdings gezeigt, dass schnelles Reagieren auf aktuelle Entwicklungen ein neuralgischer Punkt ist.
Vielleicht erweist sich hier als Problem, dass das Themenfeld der Digitalität in Museen seit vielen Jahren unter dem Schlagwort der „Digitalen Strategien“ verhandelt wird. Viele Häuser verfügen inzwischen über entsprechende Strategien, was für die Etablierung digitaler Infrastrukturen, großangelegte Umbauprozesse oder die passgenaue Adressierung von Zielgruppen natürlich unerlässlich ist. Der Begriff der „Digitalen Strategie“ bleibt aber eine merkwürdige contradictio in adiecto. Strategien zielen auf Langfristigkeit, Planung und die Sicherheit strukturierter Abläufe, während das Digitale durch kurze Aufmerksamkeitszyklen, rapide technische Entwicklungen und ständiges Experimentieren mit neuen Möglichkeiten bestimmt ist. Um diesen Widerspruch aufzulösen, sollte der Fokus tatsächlich weniger auf dem Digitalen, sondern vor allem auf den Mitarbeiter*innen von Museen liegen. Sinnvolle Strategien sollten vor allem auf den breiten Aufbau von Digital Literacy und agiler Methodenkompetenz zielen. Daher wäre es vielleicht an der Zeit, „Digitale Strategien“ in Richtung einer breit getragenen „Digitalen Disposition“ weiterzuentwickeln, die ein hohes Maß an Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem Digitalen und die flexible Beherrschung sowohl klassischer Prozesse als auch agiler Methoden miteinander verbindet. Auf dieser Grundlage könnte man auf aktuelle Entwicklungen wie Covid-19 jedenfalls schnell mit relevanten Angeboten reagieren.
Es bleibt abzuwarten, ob die Krise zum Katalysator für die Entwicklung eines ganz im Digitalen realisierten Museums wird. Blickt man auf die momentane Laborsituation, werden zumindest schon einige Kriterien deutlich: Einerseits sollte das digitale Museum eine Plattform bieten, um aktuelle Themen in Rapid-Response-Szenarien aufzugreifen und die eigenen Inhalte dazu in Stellung zu bringen. Andererseits kann die Erfahrung eines Museumsbesuchs nicht durch die schlichte Präsentation von Inhalten oder etablierten Formaten wie Führungen im Netz ersetzt werden; die Plattform muss auch eine soziale und emotionale Experience bieten, etwa durch die Einbindung der sozialen Medien oder Möglichkeiten zu richtiger Interaktion. Schließlich sollte die Plattform Möglichkeiten zum Dialog zwischen dem Museum und seinen Nutzer*innen sowie den Nutzer*innen untereinander bieten, angeregt sowohl durch relevanten Content als auch durch das Vorhandensein direkter Kommunikationskanäle. In Umrissen lässt sich das digitale Museum bereits ausmachen – sollte die Spannung von Viralität und Virus eine anhaltende sein, könnte es ein wichtiges Gegengift sein.
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